Datum: 19. November 2021

Aktuelle Debatte Flucht & Asyl – Sejdi: Menschen brauchen Zugang zu einem Asylverfahren

Redebeitrag der Abgeordneten Petra Čagalj Sejdi (BÜNDNISGRÜNE) zur Zweiten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion DIE LINKE zum Thema: „Humanitäre Hilfe leisten, anstatt Zäune und Mauern zu errichten, Herr Ministerpräsident!“
39. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Freitag, 19.11.2021, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Nachrichten und Bilder, die uns aus dem Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus erreichen, erschüttern mich zu tiefst.

Menschen kämpfen bei Eiseskälte ohne Nahrung, Wasser oder ein Dach über dem Kopf um ihr Überleben. Es gab bereits Tote.
20.000 Soldat*innen und Polizist*innen sind in das Gebiet an der Grenze zu Belarus gesandt worden, um illegale Grenzübertritte zu verhindern. Es ist die Rede von Tränengaseinsätzen, sogar gegen Kinder.

Die Einzigen, die den Geflüchteten im Moment Schutz vor Kälte und Versorgung bieten, sind ehrenamtliche Helfer*innen. Doch diese werden nicht zu den Betroffenen vorgelassen, ja sie werden sogar kriminalisiert. Ähnlich geht es Journalist*innen, auch sie kommen nicht in die Gebiete vor.

Wenn Geflüchtete von den polnischen Sicherheitskräften gefunden werden, werden Gesuche auf Asyl ignoriert, sie werden zurück nach Belarus geschafft.

Diese Bilder sehen wir leider immer wieder an den EU-Außengrenzen, ähnliches geschieht zum Beispiel seit Jahren an der kroatisch-bosnischen Grenze und im Mittelmeer. Menschen werden durch Gewalt und illegale Pushbacks aus der EU zurück gedrängt. Das ist eine Verletzung europäischen Rechts!

Die Schutzsuchenden sind gefangen, sie können weder vor noch zurück. Belarus nimmt die Menschen nicht mehr auf. Dem dortigen Machthaber Lukaschenko sind sie und ihr Schicksal gleich. Polen missachtet grundlegende Menschenrechte, indem es die Asylgesuche der Menschen ignoriert. Polen verweigert die Sicherstellung grundlegender Bedürfnisse dieser Menschen wie Nahrung und Schutz vor Kälte. Es nimmt den Tod dieser Menschen in Kauf. Die Europäische Union schaut zu und schweigt zu diesem unerträglichem Verhalten.

Das können wir nicht ignorieren! Doch was macht der Sächsische Ministerpräsident? Er befürwortet die Maßnahmen Polens. Polen soll bei dem Bau von Grenzanlagen unterstützt werden. Und: „Die Bilder notleidender Menschen müssen wir aushalten.“

Nein – und das sage ich hier ganz deutlich –, das müssen wir nicht aushalten. Wir sind Menschen, wir haben Mitgefühl, wir lassen Menschen nicht erfrieren und verhungern. Und ganz abgesehen davon geht es auch nicht darum, ob wir das aushalten. Es geht darum, wie lange die betroffenen Menschen das noch aushalten! Es geht um Menschenleben!

Das ist nicht das Europa, das ist nicht das Deutschland, das ist nicht das Sachsen, in dem ich leben möchte!

Menschen sind keine Waffe. Sie werden als Waffe eingesetzt – unfreiwillig und weil sie als Waffe einsetzbar sind. Weil es in Deutschland, weil es in Sachsen Menschen gibt, die diese Schutzsuchenden an der Europäischen Außengrenze als eine Bedrohung betrachten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, an der belarussisch-polnischen Grenze kämpfen Menschen um ihr Leben, sie frieren und hungern und es wird ihnen keine Hilfe gestattet, sie versuchen diesen Ort zu verlassen und werden von Polizei und vom Militär gewaltsam zurück gedrängt.

Ich frage Sie: Wer ist hier bedroht???

Ich kann es nicht mehr ertragen, wie rassistische, nationalistische oder konservative Einstellungen die europäische Wertegemeinschaft, die auf Mitgefühl, Menschenrechten und Vielfalt baut, ins Gegenteil verkehren.

Die Entmenschlichung der Schutzsuchenden, indem sie als Waffe bezeichnet werden, muss aufhören. Die Menschen brauchen Zugang zu einem Asylverfahren. Nur so kann legal und human geregelt werden, wer aufgenommen werden kann und wer nicht. Mauern regeln das nicht! Allen Schutzsuchenden muss umgehend eine adäquate Unterkunft, Nahrung und medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt werden. Hilfsorganisationen und Journalisten muss Zugang zu den Geflüchteten gewährt werden.

Bei diesen Maßnahmen sollte die Sächsische Staatsregierung Polen als Partnerland unterstützen. Ich gehe sogar noch weiter: Als Partner sollte Sachsen sich auch nicht scheuen, Kritik an der derzeitigen Praxis zu üben!

Auch Europa muss sein Schweigen beenden und die derzeitigen polnischen Maßnahmen verurteilen.

Die Elendslager in Griechenland, das Ertrinken auf dem Mittelmeer und das Erfrieren in den Wäldern Ost-Südosteuropas zeigen deutlich: Das derzeitige europäische Asylsystem trägt zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen bei.

Die Europäische Union muss mit Hochdruck weiter daran arbeiten, ein Asylsystem in Europa zu schaffen, dass sich durch ein System der Humanität, Verantwortung und Solidarität auszeichnet und von allen Mitgliedsstaaten getragen wird. In dieses System sollten auch Kommunen integriert werden, die ihre zusätzliche Aufnahmebereitschaft von Geflüchteten signalisiert haben.

Die neue Bundesregierung muss im Anblick der gravierenden Menschenrechtsverletzungen ganz klar in einer Koalition der Willigen agieren und sich auf europäischer Ebene für ein gerechtetes Verteilsystem einsetzen.

Auch die Sächsische Staatsregierung sollte ihre Beteiligungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene nutzen und sich ebenfalls für ein gerechtetes Verteilsystem aussprechen. Der Sächsische Innenminister sollte sich auf der nächsten Innenministerkonferenz für eine geordnete Aufnahme der Geflüchteten und Verteilung innerhalb Deutschlands aussprechen.

Denn in Sachsen stehen wir nicht für Mauern und Gewalt, wir stehen für Humanität und Verantwortung!