Datum: 04. Mai 2022

Aktuelle Debatte Inklusion – Čagalj Sejdi: Weniger Barrieren bedeuten mehr Teilhabe für alle

Redebeitrag der Abgeordneten Petra Čagalj Sejdi (BÜNDNISGRÜNE) zur Ersten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNISGRÜNE: „’Sachsen barrierefrei 2030′ – Tempo machen für die Inklusion“
49. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 04.05.2022, TOP 4

– Es gilt das gesprochene Wort

 

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

vor einiger Zeit stand ich vor einer Leipziger Grundschule und mir fiel ein Schild vor dem Haupteingang auf, mit einem Piktogramm, auf dem ein Rollstuhl zu sehen war und ein Pfeil, der um die Ecke zeigte. Darunter die Aufschrift: Barrierefreier Zugang. Der Weg zum „barrierefreien Zugang“ führte 50 Meter die Straße entlang über schiefe Pflastersteine und Löcher im Gehweg, dann um die Ecke, leicht bergauf und ebenso uneben weitere 50 Meter zum Schulhof. Ein anstrengender Weg vor allem wenn man sich vorstellt, dass die Freundinnen und Freunde alle voran gehen und das Kind im Rollstuhl ganz allein oder vielleicht sogar auf Hilfe der Eltern angewiesen um die Ecke rollt. Das mag vielleicht den Vorgaben von baulicher Barrierefreiheit entsprechen, leichter und vor allem inklusiv ist es nicht. Wenn man mit offenen Augen durch Stadt und Land geht, fallen einem viele solcher Orte auf, die zwar Barrierefreiheit und Vereinfachung herstellen sollen, aber letztendlich nur andere Barrieren aufwerfen.

Es geht nicht notgedrungen darum, anders zum Ziel zu kommen es geht darum, so zum Ziel zu kommen wie andere Menschen auch.

Menschen, denen Lesen schwerfällt, müssen trotzdem die Möglichkeit haben, Informationen auf Internetseiten zu erhalten. Eltern, die im Rollstuhl sitzen, müssen ihre Kinder zum Musikunterricht begleitet können. Jugendliche, die blind sind, müssen auch an den Angeboten im Jugendclub teilnehmen können. Ich könnte dazu noch viele weitere Beispiele aufzählen.

„Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel!“ ist das Motto des diesjährigen Aktionstags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Morgen, am 5. Mai, jährt sich zum 31. Mal der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Der Tag macht auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und die in Deutschland beschlossenen nationalen Gesetze und Richtlinien aufmerksam.

Es ist ein Anlass, genau hinzuschauen, was sich bisher gut entwickelt hat und in welchen Bereichen viel zu tun bleibt. Deutschlandweit und so auch in Sachsen finden zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen statt. Bei uns in Leipzig gibt es beispielsweise eine Aktionswoche des „Netzwerks  behindern verhindern“ mit vielen Programmpunkten, um Betroffene miteinander zu vernetzen und ihre Situation sichtbarer zu machen.

Aus diesem Anlass haben wir heute eine Aktuelle Debatte dazu beantragt, denn es existieren immer noch viele Barrieren, die in Sachsen in den nächsten Jahren abgebaut werden müssen.

Barrierefreiheit ist für uns BÜNDNISGRÜNE ein zentrales Thema, wenn wir über Inklusion sprechen. Wir haben ein klares Ziel vor Augen und wollen dabei helfen, bis 2030 Barrieren im öffentlichen Raum in Sachsen weitestgehend abzubauen.

Barrieren sind vielfältig und existieren zum Beispiel baulich, digital, kommunikativ. Der Abbau von Barrieren nutzt allen in Sachsen Kindern, Eltern, Älteren und allen Menschen mit und ohne Behinderungen. Weniger Barrieren bedeutet mehr Teilhabemöglichkeiten für alle.

Im sächsischen Doppelhaushalt 2021/22 gibt es dafür seit vergangenem Jahr erstmals ein Investitionsprogramm „Sachsen Barrierefrei 2030“. Es stehen den Kommunen zusätzlich 3,25 Millionen Euro zur Verfügung. Die Nachfrage ist groß und die bereitgestellten Gelder werden vollumfänglich genutzt, das zeigen die Förderanträge der Kommunen. Zusätzlich gibt es das seit 2014 erfolgreich laufende Förderprogramm „Lieblingsplätze für alle“. Im Februar wurden die Bewilligungsbescheide für beide Programme an die Landkreise und kreisfreien Städte erlassen und damit die Unterstützung von rund 250 neuen Vorhaben ermöglicht. Es werden zum Beispiel barrierefreie Zugänge und Behindertenparkplätze geschaffen, gesicherte Überquerungsstellen und Fußgängerzonen oder barrierefreie öffentliche Sanitäranlagen.

Doch was braucht es neben, diesen klassischen Beispielen noch? Wo müssen wir nachsteuern, um nicht nur Barrierefreiheit herzustellen, sondern um auch Inklusion zu leben?

Um das festzulegen und dann zukünftig auch abzubauen und zu verhindern, muss es im Landesaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegt werden.
Der Landesaktionsplan ist ein ein gutes Fundament – auch mit Blick auf die Barrierefreiheit. Dieser Aktionsplan baut auf den 2011 beschlossenen Nationalen Aktionsplan auf. Seit 2016 gibt es den sächsischen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK mit über 200 ganz konkreten Zielen in allen Politikfeldern. Doch geht es natürlich nicht nur darum, Ziele festzulegen. Man muss sie auch umsetzen und diese Umsetzung auch kritisch überprüfen.

Derzeit läuft in den Ministerien eine Auswertung, wo wir nach reichlich fünf Jahren stehen bei der Umsetzung. Mir ist es hier besonders wichtig, dass wir nicht nur vom Schreibtisch aus nachdenken und entscheiden. Dass wir nicht nur über Menschen und deren Bedarfe sprechen, sondern gemeinsam sprechen. Ich bin daher froh, dass auch die Selbstvertretungen und auch die Verbände dabei einbezogen werden, ebenso wie alle Bürgerinnen und Bürger. Denn Inklusion geht uns alle an!

Über das Beteiligungsportal des Sozialministeriums werden noch bis Ende Mai Meinungen, Anregungen und Ideen gesammelt. Jede und jeder kann mitmachen. Ein barrierefreier digitaler Zugang ist vorhanden. Auch wenn er an einigen Stellen noch niedrigschwelliger sein könnte. Diese breite Partizipation ist uns sehr wichtig, denn wir BÜNDNISGRÜNE verstehen Inklusion nach dem Prinzip „Nichts ohne uns, über uns“ und es freut mich, dass dieser Grundsatz auch in der Koalition geteilt wird.

Im Jahr 2023 wird dann im Landtag über die Fortschreibung des Landesaktionsplans und somit über weitere konkrete Maßnahmen entschieden. Wir als BÜNDNISGRÜNE haben das Projekt „Sachsen Barrierefrei 2030“ angeschoben. Doch es darf kein einzelner Wunsch einer Fraktion bleiben. So wie wir alle an verschiedenen Stellen in unserem Leben Barrierefreiheit brauchen, so müssen wir sie uns auch gemeinsam zum Ziel setzen. „Sachsen barrierefrei 2030“ ist ein sächsisches Projekt und muss auch seinen Platz im Landesaktionsplan finden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Tempo machen für Inklusion! Inklusion, das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben nicht mehr an vorhandene Strukturen anpassen müssen. Die Gesellschaft muss Strukturen schaffen, die es jedem Menschen – auch den Menschen mit Behinderung – ermöglichen, von Anfang an ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein. Doch beim Schaffen von Strukturen geht es nicht darum, dass nur eine Seite entscheidet. Nein viel mehr heißt es: Nichts über uns ohne uns!

Das Motto stammt bereits aus den 1990er Jahren. Es fordert eine Politik, die grundsätzlich diejenigen in Entscheidungsfindungen und Erkenntnisprozesse mit einbezieht, die davon unmittelbar betroffen sind. Dass wir das nach gut 30 Jahren immer noch aussprechen müssen, zeigt, dass sich hier nicht so viel entwickelt hat. Zwar hören wir dieses Motto immer wieder, wenn es um Inklusion geht, doch sieht es in der Praxis oft ganz anders aus. Allein wenn wir heute in unserer Runde schauen, so sind wir doch in erster Linie Menschen ohne Behinderung, die diskutieren und politische Entscheidungen sprechen. Wir müssen also nicht nur die Fragen nach den Barrieren an Gebäuden, auf Internetseiten oder in der Freizeit stellen. Wir müssen uns auch die Frage stellen, welche Barrieren in der politischen Teilhabe bestehen und wie wir sie abbauen können? Denn politische Teilhabe bedingt Selbstbestimmung und Beteiligung – und was dies angeht, sind wir in Sachsen leider noch nicht da, wo wir sein sollten.

„Auch Demokratie braucht Inklusion“ hat der Bundesbeauftragte für Menschen mit Behinderung gesagt und um das real auszugestalten, müssen wir auch hier Barrieren abbauen. Sei es beim Zugang oder der Teilhabe an politischen Veranstaltungen – um als tauber Mensch an einer Veranstaltung teilnehmen zu können, brauchen sie eine DGS-Dolmetscherin. Da ist spontane, kurzfristige Teilnahme oft schwer. Doch auch die Teilnahme an Videokonferenzen bietet Hürden, denn nicht alle Videokonferenzdienste sind kompatibel oder praktisch für die Software blinder Menschen. Oder im Internet – ein WahlOMat und Parteiprogramme in Leichter Sprache sind enorm wichtig und dürfen keine Seltenheit sein. Es gibt so vieles, was immer noch wenig Beachtung findet und behinderten Menschen die politische Beteiligung erschwert – ja oft auch unmöglich macht.

Lassen sie uns daran arbeiten, dass diese Barrieren wegfallen. Lassen sie uns die künftigen Parlamente und Regierungen in Sachsen inklusiv und diverser werden lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir haben es heute gehört: Barrierefreiheit muss Inklusion bedeuten und um Inklusion in unserer Gesellschaft zu erreichen, müssen wir Barrieren abbauen und präventiv verhindern. Hierfür gibt es unendlich viele Handlungsfelder, ich sehe die aktuellen Schwerpunkte in Sachsen aber vor allem hier:

  1. Wir brauchen Jugendclubs und Orte für Jugendliche, die für alle nutzbar sind – auch für Jugendliche mit Behinderung. Das Bundesgesetz gibt uns hier einen konkreten Auftrag mit.
  2. Ich sehe, dass derzeit viele Geflüchtete mit Behinderung aus der Ukraine und aus anderen Ländern bei uns Schutz suchen. Hier braucht es eine konkrete Aufklärung über ihre Rechte, konkrete Hilfen (wie Gebärdensprachdolmetscher, Rollstühle und Gehhilfen und Zugang zu den dringend notwendigen Medikamenten) sowie bei Bedarf die Vermittlung von Beratungsangeboten und Selbsthilfegruppen.
  3. Und auch die Barrierefreiheit im Internet ist eine riesige Baustelle. Wir müssen das Amt digital barrierefrei gestalten. Alle parlamentarischen Initiativen, die dazugehörigen Anhörungen und auch die Beschlüsse im Landtag sollten barrierefrei zugänglich sein. Ein wichtiger Schritt ist deshalb auch die Gebärdensprachdolmetscherin heute in der Debatte. Aber – und das habe ich schon in unserer letzten Debatte zur Inklusion gesagt – es ist anzustreben, dass wir tauben Menschen bei jedem Thema im Landtag ermöglichen zu folgen und dabei zu sein. Nicht nur dann, wenn es um Inklusion geht, denn das ist nicht inklusive.

Die Debatte hat gezeigt, vieles läuft bereits schon, viel bleibt zu tun. Lassen Sie es uns gemeinsam angehen. Auch bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen braucht es das klare Signal: Wir investieren in ein barrierefreies Sachsen 2030 und machen Tempo bei der Umsetzung!