Aktuelle Debatte Souveränität der EU – Gerber: Je mehr Energieimporte wir durch Erneuerbare ersetzen, desto unabhängiger werden wir
Redebeitrag des Abgeordneten Dr. Daniel Gerber (BÜNDNISGRÜNE) zur Zweiten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BÜNDNISGRÜNE zum Thema: „Strategische Souveränität der Europäischen Union sicherstellen – Energie, Klimaschutz, Wirtschaft und Sicherheitspolitik zusammen denken“
46. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 23.03.2022, TOP 5
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
um es mit den Worten eines früheren sächsischen Ministerpräsidenten zu sagen: „wir sind ja wie so ein Junkie, der […] an der Nadel hängt”. Wir haben es schon oft betont, aber noch nie wurde der breiten Öffentlichkeit die fossile Abhängigkeit so schmerzlich verdeutlicht wie in den vergangenen drei Wochen. Und diese fossile Energieabhängigkeit finanziert nicht nur den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Nein, sie zerstört auch unser Klima und damit unsere Lebensgrundlage. Es ist jetzt Zeit, den begonnen Entzug konsequent durchzuziehen und zu beschleunigen – und nicht die Zeit für den energiepolitischen Rückfall in das vergangene Jahrhundert.
So manche Putinversteher*innen konnten sich das lange Zeit nicht vorstellen. Einige behaupten sogar, Putin hätte viele getäuscht. Dem widerspreche ich deutlich. Spätestens nach dem Angriff 2014 auf die Krim und damit auf die territoriale Souveränität und Integrität der Ukraine, hätte allen klar sein müssen, welches Spiel Putin spielt. Es wurden Regimekritiker ermordet, vergiftet und in politischen Schauverhandlungen verurteilt. Es wurden die Diktatoren in Belarus und Kasachstan unterstützt und Gasspeicher absichtlich nicht gefüllt. Nun hat der Kreml einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gestartet und beschießt wehrlose Zivilisten in Krankenhäusern und Theatern. Sind das die Handlungen eines zuverlässiges Geschäftspartners? Ich glaube nicht.
Um die gleichen Fehler nicht noch einmal zu wiederholen, lohnt die Betrachtung der Vergangenheit. Wir haben uns freiwillig und sehenden Auges in eine energiepolitische Abhängigkeit begeben, die zu übergroßen Teilen auf Importen aus einem einzelnen Land beruht. In Deutschland kamen 2018 rund 41 Prozent der verbrannten Steinkohle, rund 34 Prozent aller Erdölimporte und sogar 55 Prozent der Erdgasimporte aus Russland. Bereits seit 2014, also nach der Annexion der Krim, hat die damalige Bundesregierung die Gasimporte aus Russland sogar um rund 18 Milliarden Kubikmeter bzw. 50 Prozent erhöht. Und es geht noch weiter: Den künftigen Bedarf an Gas der Bundesrepublik Deutschland hat man sich von der Nordstream 2 AG diktieren lassen. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Der Lieferant sagt dem Kunden, wie viel bestellt werden soll.
Die Menschen in der Ukraine sind jetzt die Leidtragenden, die diese fatale Fehleinschätzung mit einem hohen Preis bezahlen. Aber wer garantiert uns denn, dass Putin uns nicht von heute auf morgen oder im nächsten Winter als Vergeltungsmaßnahme von der Energieversorgung abschneidet? Auf diese Situation müssen wir uns vorbereiten und das haben wir auch im Entschließungsantrag so beschlossen. Ebenfalls haben wir beschlossen, dass zur Herstellung einer nachhaltigen Versorgungssicherheit und zur Wahrung der nationalen Sicherheit diese einseitige Abhängigkeit deutlich reduziert werden muss. Ein Meilenstein für Sachsen, wie ich finde.
Wir sind jahrelang in die Falle gelaufen und jetzt ist sie zugeschnappt. Die Energiepolitik der vergangenen 16 Jahre ist krachend gescheitert und stellt uns vor massive sicherheitspolitische Probleme. Wir müssen nun so schnell wie möglich alle Maßnahmen ergreifen, die die Resilienz der deutschen und sächsischen Energieversorgung in allen Sektoren verbessert. Dazu gehört kurz- bis mittelfristig die Diversifizierung des Gasimports, der langfristig auch mit grünem Wasserstoff oder Ammoniak funktionieren muss.
Die bessere Ausnutzung bestehender Gasspeicherkapazitäten befindet sich bereits im Gesetzgebungsprozess . Zusätzlich sollten wir den Energiebedarf durch verbesserte Energieeffizienz und Energieeinsparungen verringern und vor allem durch den Ausbau erneuerbarer Energien so viel wie möglich Energie hierzulande gewinnen. Die Bundesregierung wird hierzu in den sogenannten Oster- und Sommerpaketen eine ganze Reihe weitere Beschleunigungen vorstellen. Den von der EU-Kommission vorgestellten Vorschlag „RePowerEU“ unterstützen wir.
Damit allen die Dimension dieser Fehleinschätzung klar ist: Die Länder Europas überweisen nach Berechnungen des Brüsseler Think Tanks Bruegel jeden Tag zwischen 420 Millionen und knapp 700 Millionen Euro an Russland. Es ist also von allergrößter Wichtigkeit für die Souveränität der Ukraine, dass Europa so schnell wie möglich diese Zahlung einstellt, um damit die Kriegsmaschinerie nicht weiter zu finanzieren. Je mehr Energieimporte wir durch Erneuerbare Energie durch Sektorenkopplung in allen Sektoren ersetzen, desto unabhängiger werden wir. Ich appelliere daher an alle Funktions- und Amtsträgerinnen auf allen Ebenen, Erneuerbare-Energie Projekte zu beschleunigen.
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
vor gut zweieinhalb Jahren habe ich hier im hohen Hause eine Verpflichtungserklärung abgegeben. Ich habe zugesagt, dass ich nach besten Wissen und Gewissen „Schaden vom Volke des Freistaat Sachsen abwende“ und in „Gerechtigkeit gegen jedermann dem Frieden diene werde“. In den vergangenen Tagen, seit dem 24. Februar, schreit mich mein Gewissen regelmäßig an – manchmal, im Anbetracht der Bilder und Videos, weint es auch einfach nur. Am liebsten würde ich sofort den Gashahn selbst abdrehen, aber das würde keine Probleme lösen und noch größeren Schaden für alle bringen. Und daher finde ich es auch unredlich, wenn der CDU-Bundesvorsitzende den sofortigen Stopp von Nord Stream 1 fordert, ohne dafür einen Ersatz anzubieten. Wo allerdings für mich eine rote Linie gezogen werden muss, ist beim Einsatz von atomaren, biologischen oder chemischen Waffen.
Unsere Wirtschaft ist aktuell faktisch abhängig von fossilen Energieträgern. Die strategische Souveränität kann nur durch eine konsequente Umsetzung der Energiewende sichergestellt werden. Anstatt rückwärtsgewandter Diskussionen sollten wir nach vorne sehen und einsehen, dass die Wirtschaft sich längt auf diesem Pfad befindet und die Politik oftmals noch hinterherhinkt.
Ein typischer Punkt, der fälschlicher Weise immer wiederholt wird: Klimaschutz kostet Arbeitsplätze und ist teuer. Das Gegenteil ist der Fall. So haben Forschende am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung jetzt eine neue Studie vorgestellt. So soll das Bruttoinlandsprodukt 2030 durch Klimaschutzmaßnahmen des Koalitionsvertrags um 1,2 Prozent steigen und 400.000 Arbeitsplätze würden entstehen. Wem das immer noch nicht reicht, für den habe ich noch vier weitere Argumente.
- Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke berichtet schon 2019, dass die umweltgerechte Energieversorgung im Gespräch mit Tesla ein entscheidender Vorzug gewesen sei.
- Auch die Entscheidung von Intel, nach Magdeburg und nicht Dresden zu gehen, lässt sich auf die Verfügbarkeit von Windkraft zurückführen. So hat der Chief Global Operations Officer den Schritt wie folgt begründet: „Wir haben über 80 Standorte überall in Europa geprüft, ausschlaggebend war die Verfügbarkeit von Infrastruktur – die beiden Fabriken benötigen zu hundert Prozent Ökostrom (…).“
- Die Firma Northvolt hat ebenfalls in der vergangenen Woche angekündigt, mit der geplanten Gigafactory für E-Auto-Batterien nach Heide in Schleswig-Holstein und nicht nach Bayern zu gehen. Der „Reichtum an sauberer Energie“ im Norden oder „clean energy valley“, wie das Unternehmen die Region nennt, war entscheidend. Erklärtes Ziel des Unternehmens ist es, Batterien für E-Autos mit „dem geringsten ökologischen Fußabdruck in Kontinentaleuropa“ herzustellen.
- Und zu guter Letzt noch ein Beispiel aus Sachsen. So war es Karen Kutzner, CFO bei VW Sachsen, die bei der Eröffnungsveranstaltung zur Windkraft-Kampagne des Freistaats gesagt hat, dass sie sich wünschen würde, dass der Grünstrom aus Sachsen käme und ein „schnellere[r] Umstieg weg von Kohle- und hin zu Grünstrom” passiert. Wie viele solcher Schwergewichte können wir uns noch leisten, vorbeiziehen zu lassen? Ich möchte, dass Sachsen in dieser Liga in Zukunft mitspielen kann. Wir haben beispielsweise mit der Wasserstoffwirtschaft und -forschung in Sachsen im Bundesvergleich Bestnoten, sind aber drauf und dran, diese zu verspielen, da der Ausbau der Erneuerbaren weiter blockiert wird.
Dass die sächsische Bevölkerung ebenso diesen Weg gehen möchte, wissen wir auch seit vergangener Woche. Die repräsentative Akzeptanzstudie aus dem Umweltministerium hat hier ganz klar gezeigt, dass es eine Mehrheit in der Gesellschaft für den Ausbau der Erneuerbaren gibt und dass sich diese nicht signifikant zwischen Stadt und Land unterscheidet. Aus der Studie lässt sich für die Zukunft ableiten, dass wir vor allem die vor Ort anerkannten Personen wie Bürgermeister*innen oder Gemeinderäte*innen besser mit Informationen unterstützen müssen. So erhalten wir vor Ort noch mehr Zuspruch für den Ausbau der Erneuerbaren Energie gegen die Klimakrise – und für eine Energiesouveränität. Auch die Beteiligungen von Gemeinden, aber auch Bürgerinnen und Bürgern direkt, wird die Akzeptanz der Erneuerbaren in Zukunft weiter steigern.
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
der Zusammenbruch der Lebensmittelketten in der Ukraine und die damit einhergehenden Probleme des Welt-Ernährungs-Programms zur Versorgung der ärmsten Weltbevölkerung sind nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Probleme, die mit der Klimakrise auf uns zukommen. Aktuell sehen wir schon wieder Temperaturanomalien in großen Bereichen des Süd- und Nordpols. Dort kommt es zu einer 15°C höheren Temperatur als im Durchschnitt. Wie der Weltklimarat im kürzlich veröffentlichten Sachstandsbericht wieder eindrucksvoll mit einer Zusammenfassung von über 10.000 wissenschaftlichen Publikation zur Klimakrise veranschaulicht hat, erwarten uns und unsere Nachkommen Hitzerekorde, Dürren, sinkende Wasserspiegel, Missernten, Waldbrände und Überschwemmungen. Wenn wir diese Entwicklung nicht in den Griff bekommen und endlich entschieden handeln, werden nicht nur Menschen aus einem Land fliehen müssen. Der CO2-Ausstoß in Deutschland ist 2021 übrigens wieder um 4,5 Prozent gestiegen. Damit wird Deutschland seine gesetzlich verankerten Klimaziele 2022 und wohl auch 2023 erneut verfehlen.
Die Klimakrise ist jetzt und wir müssen auch jetzt handeln. Genau das werden auch diesen Freitag wieder weltweit hunderttausende von jungen Menschen beim Klimastreik fordern. Vor diesem Hintergrund darf auch auf keinen Fall an dem vorgezogenen Kohleausstieg gerüttelt werden. Die gesamte Energiewirtschaft hätte daran auch kein Interesse. Für den Bundesverband der deutschen Energie und Wasserwirtschaft gilt auch nach dem Kriegsbeginn: „Ein anvisierter vorgezogener Kohleausstieg ist unter der Bedingung von Substitutionen durch Erneuerbare Energien und die erforderliche gesicherte Leistung weiterhin möglich.“ Hier ist anscheinend die Wirtschaft schon deutlich weiter als Teile der Politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Krieg in der Ukraine hat uns alle enger zusammenrücken lassen. Die Europäische Union, die NATO und die Vereinten Nationen sind durch diesen Konflikt so vereint wie nie zuvor. Lassen sie uns dieses Momentum nutzen und die Gräben, die in der Vergangenheit entstanden sind, zuschütten. Lassen sie uns nicht rückfällig werden, sondern den einmal eingeschlagenen Entzugsweg bis zur Klimaneutralität weiter voranschreiten. Dieser Weg ist gut für unsere Wirtschaft, unsere Sicherheit, unser Klima und den Frieden.