Datum: 04. Mai 2022

Fachregierungserklärung Ukraine-Krieg & Wirtschaft – Liebscher: Diese Zeitenwende erfordert eine Energiewende

Redebeitrag des Abgeordneten Gerhard Liebscher (BÜNDNISGRÜNE) zur Fachregierungserklärung zum Thema: „Was jetzt zu tun ist – in der Zeitenwende Unternehmen und Arbeitsplätze in Sachsen zukunftsfest gestalten“
49. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 04.05.2022, TOP 3

– Es gilt das gesprochene Wort

 

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Damen und Herren Abgeordnete,

ein dramatischer Einschnitt, eine historische Zäsur, eine Zeitenwende – das ist der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Und das ist er in allererster Linie für die ukrainische Zivilbevölkerung.

Seit 24. Februar verfolgen wir die erschütternden Entwicklungen und Bilder von Gewalttaten, wie wir sie in Europa nicht mehr glaubten, wieder erleben zu müssen. Erinnerungen an Kriegsverbrechen wie in Butscha, Mariupol, Charkiw und anderen Orten brennen sich schmerzhaft in unsere europäische Geschichtsschreibung ein.

Den Angehörigen der zivilen und militärischen Opfer und den Vertriebenen, den Menschen, die vor Ort ihr freies Land verteidigen und dem russischen Vormarsch gegenüber unermüdlich Widerstand leisten – diesen Menschen gilt unsere Solidarität.

Wir heißen alle schutzsuchenden Menschen im Freistaat herzlich willkommen! Viele Sächsinnen und Sachsen leisten seit Wochen ihr Äußerstes, um die Geflohenen aufzunehmen und ihnen eine Grundversorgung zu ermöglichen.

Im April ging die Landesdirektion in Hochrechnungen von 25.000 Geflüchteten aus, die in Sachsen bereits eine erste Bleibe gefunden haben. An dieser Stelle gilt mein Dank all den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die Menschen auf der Flucht und bei ihrer Ankunft hier in Sachsen unterstützen. Danke an alle, die wertvolle zivilgesellschaftliche Unterstützungsstrukturen für Geflüchtete tragen.

Meine Damen und Herren,

wir wollen Ressourcen mobilisieren, um unsere Solidarität mit der Ukraine, über die Hilfe für Geflüchtete hinaus, mit Leben zu füllen. Am vergangenen Donnerstag traf der Bundestag eine umstrittene Entscheidung, die Waffenlieferungen an die Ukraine umfasst. Auch wir BÜNDNISGRÜNE stimmten auf dem Länderrat am vergangenen Wochenende dieser Notwendigkeit zu. Dieses Mittel diskutieren wir natürlich lebhaft. Wir tragen diese Entscheidung. Denn jedes Land hat das Recht auf Selbstverteidigung. Jedes weitere Zögern bedeutet den sicheren Tod weiterer unschuldiger Menschen. Die ukrainischen Streitkräfte tragen nun auch die Bürde der Verantwortung, weitere Vormärsche in Europa zu verhindern.

Verehrte Damen und Herren,

Herr Bundeskanzler Olaf Scholz wählte das Bild der Zeitenwende, um die Zäsur zu kennzeichnen, die der russische Überfall bedeutet. Ein Riss, der das sicherheitspolitische Gefüge eines demokratischen Europas ins Wanken bringt und unser wirtschaftspolitisches System vor plötzliche Herausforderungen stellt.

Für uns BÜNDNISGRÜNE ist unumstößlich klar: Die Antworten, die wir bieten, müssen weiter reichen und müssen tiefer greifen als die Aufrüstung der Bundeswehr und die Unterstützung der ukrainischen Verteidigung mit deutschen Waffen.

Zeitenwende, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, meint nicht weniger als eine Befreiung aus Pfadabhängigkeiten, in die wir uns selbst hineinbegeben haben. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der russischen Invasion sind heute nicht abzusehen noch nummerisch zu fassen.

Deutliche Folgen sehen wir bereits durch die Unterbrechung von Lieferketten, die zerstörte ukrainische Landwirtschaft und durch die tiefe Abhängigkeit Deutschlands von russischen Rohstoffen, insbesondere von fossilen Energieträgern, die signifikante Preissteigerungen verzeichnen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

eine naive Blauäugigkeit, mit der man sich hierzulande in die zunehmende Abhängigkeit von Russland begeben hat, tritt nun zu Tage: Seit 2014 hat man die Warnungen unserer osteuropäischen Partner in den Wind geschlagen. Man hat kritischen Stimmen, die vor einem Ausbau von Nord Stream 2 und damit wachsenden Abhängigkeiten von Russland warnten, die Instrumentalisierung von Menschenrechten vorgeworfen – während Moskau die Gasspeicher- Stände taktisch zurückhielt und Devisen aufbaute.

Lernen wir eines aus diesem sinnlosen Krieg: Warnungen der Zukunft scheinen immer abstrakt. Doch wenn wir abwarten, bis die kommenden Krisen in ihrer Drastik physisch erfahrbar werden, lassen sie uns keinen Handlungsspielraum mehr. Wenn wir früh genug bewusst gestalten, können wir planvoll vorgehen.

Diese Zeitenwende erfordert eine Energiewende.

Wir müssen heute unsere wirtschaftliche Souveränität sichern, indem wir unsere Energieversorgung umbauen. Kurzfristig bringen wir uns dadurch in die Lage, wirtschaftliche Sanktionen durchzuhalten und für mögliche Lieferstopps gewappnet zu sein. Als ostdeutsche Länder tragen wir aufgrund der infrastrukturellen Voraussetzungen eine besondere Verantwortung. Sachsens Regierung steht laufend in engem Austausch mit dem Bund und der Energiewirtschaft. Die Versorgungslage wird als gesichert einschätzt. Die kommende Novellierung des Energiesicherungsgesetzes wird die kritische Infrastruktur zusätzlich absichern. In Abstimmung mit der Bundesebene werden alle Vorkehrungen zur Sicherung der Versorgung getroffen. Bereits jetzt ist ein anteiliger Rückgang der Gas- und Ölimporte aus Russland zu verzeichnen, wobei die Unabhängigkeit von russischen Erdölimporten bis Ende des laufenden Jahres erzielt werden soll. Eine substantielle Reduktion der Abhängigkeit von russischem Erdgas soll innerhalb der kommenden zwei Jahre umgesetzt werden.

Der schnellste und wirkmächtigste Hebel, um uns unabhängig von fossilen Brennstoffen zu machen, ist die Reduktion unseres Energieverbrauchs. In Sachsen muss dieses Potential noch besser genutzt werden. Das gilt sowohl für nachhaltiges Beschaffungswesen, die Umstellung von Industrieprozessen als auch für die Bewusstseinsbildung innerhalb unserer Bevölkerung.

Unser Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dreht derzeit jeden Stein um, um unsere Energieversorgung zu diversifizieren.

Mit dem vorgelegten Osterpaket legt sein Ministerium die umfangreichste energiepolitische Novelle seit Jahrzehnten vor, die den Ausbau erneuerbarer Energien maßgeblich beschleunigen soll:

  • Bis 2030 wird das Versorgungsziel von 80 Prozent des Strombedarfs aus Erneuerbaren gesetzt. 2035 soll somit eine rein regenerative Stromversorgung gewährleistet werden.
  • Planungsrechtlich wird regenerativer Energie klar der Stellenwert des überragenden öffentlichen Interesses eingeräumt.
  • Kommunen sollen verstärkt am finanziellen Erfolg ihrer Wind- und Sonnenenergie teilhaben und naturschutzfachliche Vorgaben bei Freiflächenanlagen machen können.
  • Verbraucherinnen und Verbraucher werden deutlich entlastet, die EEG Umlage wird auf null abgesenkt, was auch das Energierecht entbürokratisiert.
  • Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz schafft zudem regulative Grundlagen, um in Hochgeschwindigkeit Lücken beim Ausbau der Infrastruktur zu schließen und den Netzausbau entsprechend des Ziels der Klimaneutralität zu gestalten.

Werte Damen und Herren,

diese Einladung müssen wir in Sachsen wahrnehmen! Ergreifen wir jetzt die Chance, den dringend überfälligen Ausbau einer nachhaltigen Energiesouveränität anzustoßen! Laut der im März veröffentlichten Umfrage unseres sächsischen Energieministeriums steht die große Mehrheit der Sächsinnen und Sachsen dem Ausbau erneuerbarer Energien positiv gegenüber.

Als Freistaat müssen wir nun Vorkehrungen treffen, die notwendigen Flächen bereitzustellen. Dass hier noch viel Luft nach oben ist, muss ich Ihnen nicht sagen.

Wir BÜNDNISGRÜNE wollen die Solarpotentiale auf Sachsens Dächern erschließen: öffentliche Gebäude, Verwaltung, Kitas, Schulen – ebenso wie Industriegebäude und bereits versiegelte Flächen. All diese können zugig zu Energieflächen werden. Wir fordern daher die Solarpflicht für öffentliche und gewerbliche Neubauten.

Die aktuellen Entwicklungen müssen auch Einfluss auf die Neufassung der sächsischen Bauordnung haben. Regulative Voraussetzungen des Freistaats dürfen nicht länger jeglichen Ausbau von Windrädern blockieren. Die Ermöglichungskultur muss endlich Einzug in die sächsischen Verwaltungen erhalten.

Werte Kolleginnen und Kollegen,

unser Freistaat hat ausgezeichnete Voraussetzungen, beim Hochfahren der Wasserstoffwirtschaft eine Spitzenposition einzunehmen: Wir haben eine starke Wasserstoffstrategie, die grünen Wasserstoff zu einem zentralen Energieträger der Zukunft machen soll. Wir haben leistungsfähige Cluster, Spitzenforschung, sächsischen Anlagen- und Komponentenbau und wir haben findige Unternehmerinnen und Unternehmer, die im Strukturwandel auf alternative Technologien umsteigen wollen.

Und ich muss es Ihnen heute noch einmal sagen: Die elementare Zutat für den Hochlauf von Wasserstoff in Sachsen ist der Hochlauf der regenerativen Energien. Der Grünstrom gehört zum sächsischen Wasserstoff wie die Butter in den Stollen, wie die Kartoffel in die grünen Klöße, wie die Kalorien in die Eierschecke.

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

die schnelle Entwicklung der letzten zwei Jahre zeigt, dass auf eine Krise die nächste folgt. Wir müssen daher auch diese Zeitenwende als Sprungbrett überfälliger Entwicklungen nutzen.

Eine Zeitenwende erfordert eine Ressourcenwende.

Die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe für die sächsische Wirtschaft ist, wie wir sehen, von sensiblen internationalen Lieferketten abhängig. Gleichzeitig bedroht unser Ressourcenhunger weltweit Ökosysteme und die Lebensgrundlage der Menschen. Ein weiterer Baustein zur wirtschaftlichen Souveränität ist die ressourceneffiziente Kreislaufführung unserer Rohstoffe. Für uns BÜNDNISGRÜNE ist klar: Wir müssen unseren Bedarf an Primärrohstoffen ganz drastisch reduzieren. Gleichzeitig können wir in Sachsen auf breites technisches Know-how in der Kreislaufwirtschaft zurückgreifen. Die dramatische Preisentwicklung im Rohstoffsektor, wie zum Beispiel von Bitumen, Stahl, Legierungen oder Aluminium, ist ein klares Signal: Wir können und müssen jetzt unsere Innovationspotentiale im Bereich der Kreislaufführung heben. Dieses wirtschaftliche Potential gilt es, in Rücksprachen mit der Industrie, zu fördern und regulativ zu unterstützen. Auch hier müssen wir durch ein klares politisches Bekenntnis Marktsignale setzen, um Investitionen im Bereich der Kreislaufwirtschaft anzuregen sowie öffentlich-rechtliche Träger befähigen, auf Innovative Technologien zu setzen.

Eine Zeitenwende erfordert eine Mobilitätswende.

Zur Sicherung der sächsischen Zukunftsfähigkeit ist ein Fokus auf die zielgerichtete Pflege von Verkehrsinfrastruktur zu legen. Wirtschaftliche Infrastruktur kann sich widerspruchslos in die Zielplanung der Energiesouveränität und Ressourceneinsparung einordnen. Dafür sind energetische Ressourcen so effizient wie möglich einzusetzen. Das setzen wir in Sachsen um, indem wir mehr Güter auf die Schiene verlagern sowie eine verkehrssichere Anbindung der Dienstorte für alle Sächsinnen und Sachsen auch außerorts mit Rad- und ÖPNV gewährleisten.

Meine Damen und Herren,

der motorisierte Individualverkehr, wie wir ihn heute leben, zeugt vor allem von prähistorischer Ineffizienz. In der Zeitenwende gilt: Effiziente Verkehrsmittel auf die Überholspur! Und selbstverständlich sollte das auch ein Tempolimit umfassen. Wenn wir auf „Tempo 100“ auf Autobahnen und auf 80 auf Straßen außerorts reduzieren, können wir laut Umweltbundesamt 2,1 Milliarden Liter Kraftstoff einsparen. Ich kann Ihnen Mut machen: Vom Vogtland hier her dauert der Weg nur exakt 15 Minuten länger.

Werte Kolleginnen und Kollegen,

die Zeitenwende verlangt allen Bürgerinnen und Bürgern sehr viel ab. In meinen Gesprächen mit den Menschen in Sachsen, in Fragen, die an mich gerichtet werden, spiegelt sich die Unsicherheit. Viele Privathaushalte, insbesondere die niedrigen Einkommen und prekär beschäftigte Arbeitskräfte, sind durch die Corona-Pandemie finanziell und auch emotional geschwächt und sehen sich nun mit Energiepreissteigerungen und einer wachsenden Inflationsrate konfrontiert.

Daher legen wir als BÜNDNISGRÜNE ganz besonderen Wert darauf: Die Zeitenwende bedarf einer sozial-ökologischen Wirtschaftswende. Das Entlastungspaket der Bundesregierung setzt dabei bereits an vielen Stellen richtig an, kann aber die weitere Preisentwicklung nicht abdecken. Um die Kaufkraft der Menschen, ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ihre Versorgung mit Wohnraum zu sichern, sind daher weitere sozialpolitische Hebel in Bewegung zu setzen.

Werte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,

die Zeitenwende wird entschiedenen Einsatz auf allen Ebenen abfordern, das Bekenntnis zum Wandel ist dabei der erste Schritt.

Der französischer Schriftsteller Jean Anouilh lies seinen König Kreon einst sagen:
„Nein sagen ist leicht. […] Wer ja sagt, muss das Leben fest mit beiden Fäusten anpacken und sich in die Arbeit knien, dass der Schweiß rinnt.“

Ich bitte Sie, werte Kolleginnen und Kollegen: Packen Sie mit an.