Datum: 05. Juli 2023

Wahlgesetz – Lippmann: Gesetzentwurf der Staatsregierung trägt der Bevölkerungsentwicklung Rechnung

Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zum Gesetzentwurf der Staatsregierung: „Gesetz über die Wahlen zum Sächsischen Landtag (Sächsisches Wahlgesetz – SächsWahlG)“ (Drs 7/13739) und zum Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE: „Gesetz zur Vereinfachung der Wahlen zum Sächsischen Landtag und zur Stärkung der regionalen Repräsentanz der Wahlkreise (Sächsisches Wahlrechtsvereinfachungsgesetz – SächsWahlRVereinfG)“ (Drs 7/11485)
73. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 05.07.2023, TOP 5

– Es gilt das gesprochene Wort –

 

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,

das Wahlrecht ist nicht nur eines der spannendsten Rechtsgebiete der Bundesrepublik und des Freistaates, sondern zugleich auch eines der umstrittensten. Denn Wahlrechtsfragen sind stets Machtfragen und diese Machtfragen wiederum sind Ausdruck des politischen Willens des Gesetzgebers. Wenn der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm einst das Recht als geronnene Politik bezeichnete, so dürfte das Wahlrecht – gleich welcher Ausprägung – wohl das koagulierteste Rechtsgebiet in der Bundesrepublik sein.

Genau deshalb verleitet das Wahlrecht seit eh und je dazu, heilvollen Versprechungen durch die verschiedenen politischen Akteure zu unterliegen. Die das Wahlrecht als konstitutiver Legitimationsakt der parlamentarischen Demokratie mitunter umgebende Mystik führt häufig zu politischen Vorschlägen, die revolutionär oder besonders innovativ daherkommen sollen, um deutlich zu machen, wie anders doch unserer Demokratie aussehen könnte, wenn man nur ein paar Schrauben am Wahlrecht ändere.

Und so wie die FDP seit Menschengedenken nicht müde wird, ein einfacheres und gerechteres Steuersystem zu fordern, scheint die unerreichbare Verheißung des Wahlrechts jene nach einem einfachen, gerechten und widerspruchsfreien Wahlrecht zu sein. Den nächsten Antritt in diese Richtung macht nun die LINKE mit ihrem sogenannten Wahlrechtsvereinfachungsgesetz und scheitert.

Denn das, was hier auf dem ersten Blick als so einleuchtend einfach eingeworfen wird, entpuppt sich bei näheres Betrachtung als bloßer Etikettenschwindel. Der vorliegende Gesetzentwurf der LINKEN erhöht unnötig die Komplexität des Wahlsystems, verkennt entstehende inverse und widersprüchliche Effekte und ist nicht geeignet Überhangmandate zu verhindern.

Sehr geehrte Damen und Herren,
anders als von der Einbringerin behauptet, handelt es sich hier nicht um eine innovative Idee, Wahlkreise ganz grundsätzlich neu zu schneiden. Vielmehr handelt es sich technisch um die Einführung einer zweiten, gleichwohl mit der Listenwahl verbundenen Verhältniswahlkomponente. Statt dem Einzelwahlkreis und der Landesliste sollen nun also die Landesliste und eine Lokalliste gewählt werden – etwas Anderes sind nämlich die Mehrmandatswahlkreise nicht.

Das wäre nicht so dramatisch, weil politisch ja durchaus eine vertretbare Forderung, bei der man auch darüber hinwegsehen kann, dass systemisch immer noch Überhangmandate möglich sind, wenn man sich als LINKE nicht einen groben gedanklichen Fehler geleistet hätte, mit dem man Tür und Scheunentor für eine verfassungsrechtliche Diskussion über inverse Effekte durch taktisches Stimmverhalten geöffnet hat.

Das Problem liegt in der Verteilung der Mandate in die Mehrmandatswahlkreise. Diese nunmehr 80 Mandate werden anhand der im jeweiligen Wahlkreis abgegebenen gültigen Direktstimmen an die Wahlkreise verteilt.

Es ist also vorher für die Wählerinnen und Wähler bei der Stimmabgabe gar nicht ersichtlich, wie viele Mandate überhaupt im Wahlkreis gewählt werden – so viel zur angeblichen Vereinfachung. Aber das nur am Rande. Jetzt tritt nämlich folgendes Problem zu Tage: Über die Frage, wie viele Mandate im Erzgebirge als vermeintliche Direktmandate verteilt werden, entscheidet beispielsweise die Zahl der Wählerinnen und Wähler in Dresden und umgekehrt.

Da diese flexible Oberverteilung nicht von den Ergebnissen der Parteien, sondern im ersten Schritt nur von der Zahl der Wählerinnen und Wähler abhängt, kann es nun passieren, dass es gar nicht klug ist, in Dresden die CDU mit der Direktstimme zu wählen – also mathematisch, sonst versteht sich das ja von selbst.

Denn diese Stimme könnte dazu führen, dass sich zwar die Zahl der Mandate, die in Dresden verteilt werden, erhöht, hier aber – aufgrund der Unterverteilung dieser Mandate auf die Parteien – die CDU dieses Mandat nicht zugeteilt bekommt, sondern die BÜNDNISGRÜNEN, dieses aber im Erzgebirge entfällt, wo es an die CDU gegangen wäre. Verkürzt: Eine Direktstimme für die CDU in Dresden kann dazu führen, dass die CDU in Summe ein Direktmandat weniger erhält.

Sehr geehrte Damen und Herren,
wer mir noch folgen wollte und folgen konnte, dem dürfte nun das Problem aufgefallen sein. Das ähnelt doch bedenklich den Konstellationen, die in Bezug auf das sogenannte negative Stimmgewicht durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erkannt wurden – zuletzt 2012, als sich selbiges mit einem ähnlich gestalteten System der Verteilung der zu vergebenden Direktmandate an die Bundesländer im ersten Zuteilungsschritt beschäftigt hatte.

Werte Kolleginnen und Kollegen der LINKEN,
man muss den Fehler von Schwarz-Gelb im Bund seinerzeit nicht auch noch abschreiben. Und selbst wenn man – meines Erachtens fälschlicherweise – annehme, dass dies kein negatives Stimmgewicht im engeren Sinne sei, so kann ich ihnen nun sagen, dass a) das Bundesverfassungsgericht in solchen systemischen Konstellationen mittlerweile alle inversen Effekte sehr kritisch sieht und b) sie den Wählerinnen und Wählern erklären müssen, was an solch komplizierten Wahlrechts-Vodoo eigentlich eine Vereinfachung sein soll.

Zum Gesetzentwurf der LINKEN bleibt mir daher nur festzustellen, dass sie ähnlich gut beraten sind wie die FDP, verheißungsvolle Versprechen in komplexen Regelungsgefügen – sei es im Steuer- oder im Wahlrecht – lieber ad acta zu legen. Für schlechte Experimente ist diese elementare Rechtsmaterie unserer Demokratie nämlich zu sensibel.

Sehr geehrte Damen und Herren,
dem gegenüber ist der Gesetzentwurf der Staatsregierung zwar nicht innovativ, aber praktikabel. Er begegnet mit der Anpassung der Zahl der Wahlkreise im Vogtland, in Mittelsachsen, in Dresden und in Leipzig der Bevölkerungsentwicklung in den genannten Regionen und geht dennoch behutsam mit den Herausforderungen um. Der konkrete Zuschnitt begegnete in der Sachverständigenanhörung keinen Bedenken und mit der Umstellung des Sitzzuteilungsverfahrens auf Sainte-Lague wird die Sitzverteilung gerechter gestaltet.

Mit dem Gesetz geht auch eine wichtige Änderung der Landeswahlordnung und parallel auch der Kommunalwahlordnung einher. Wir schützen die Kandidatinnen und Kandidaten gegen Anfeindungen und Bedrohungen, indem diese zukünftig das Recht haben, zu entscheiden, ob sie in der öffentlichen Bekanntmachung ihre vollständige Adresse oder nur die Postleitzahl und den Ort angeben wollen.

Mit diesen kleinen Schritten stärken wir tatsächlich die Demokratie in Sachsen, ohne dabei bunte Kaninchen aus dem Wahlrechtshut zu ziehen.

Denn die Magie des Wahlrechtes liegt manchmal auch in der resoluten Beharrlichkeit.

Vielen Dank