20 Jahre nach der Friedlichen Revolution ist es Zeit für eine neue politische Kultur in Sachsen
Am 9. November jährt sich zum 20. Mal der Fall der Berliner Mauer. Der nationale Stolz und der Streit über die positiven und negativen Folgen der deutschen Einheit scheinen in diesen Tagen, Wochen und Monaten die öffentliche Wahrnehmung zu dominieren. Damit droht der Rückfall in bekannte Muster, die das Datum 1989 auf die Einheit und ihre Folgen reduzieren.
Allzu oft verschwinden die Erinnerung und die Würdigung der Selbstbefreiung aus der Unmündigkeit hinter dem ständigen Abgleich von Ost-West–Befindlichkeiten. Der Streit um die „bessere deutsche Hälfte“ des ehemals geteilten Landes und den Wert der jeweiligen Mitgift für die deutsche Einheit wird mit Vehemenz geführt. Er lässt die eigenständige Leistung der Ostdeutschen, die Freiheit erstritten zu haben, in den Hintergrund treten.
Dass wir mit 1989 eine erstmals geglückte und friedliche demokratische Revolution in der deutschen Geschichte feiern können, sollte uns auch künftig nicht weniger wertvoll sein als die deutsche Einheit. Der westliche Teil Deutschlands bekam 1945 das demokratische System geschenkt. In der DDR musste 1989 die Freiheit erkämpft werden. Ohne die Erringung der Freiheit hätte es keine Einheit geben können – und auch in der Einheit muss die Freiheit immer wieder neu erstritten und gegen ihre Feinde verteidigt werden.
Deshalb kann es uns nicht darum gehen, das Erbe der Friedlichen Revolution in Glasvitrinen und Sonntagsreden über Demokratie und Freiheit zu konservieren. Freiheit und Demokratie sind kein abstrakter Idealzustand und auch kein Naturgesetz. Sie sind nicht ein für alle Mal durch Institutionen und Regeln des Rechtes herzustellen. Sie müssen von Demokratinnen und Demokraten gelebt, gestaltet und auch geschützt werden – das gilt für die Verteidigung von Bürgerrechten gegen eine überdrehte Sicherheitspolitik ebenso wie für den Kampf um vielfach noch ausstehende Beteiligungsrechte. Die politische Kultur der letzten 20 Jahre hat gezeigt, dass dies vielen Regierenden, aber auch vielen Regierten nicht bewusst ist.
20 Jahre nach der Friedlichen Revolution stehen Demokratinnen und Demokraten in Sachsen vor der Aufgabe, gemeinsam nach einer neuen politischen Kultur zu suchen. Dieses Gedenkjahr hat uns gezeigt, dass uns vieles noch daran hindert, die Friedliche Revolution als unser gemeinsames lebendiges Erbe anzunehmen.
Die scheinmoralische Debatte über Blockpartei-Biografien, um Politiker der einen Seite zu diskreditieren, hilft uns ebenso wenig weiter wie der ewige Verweis auf das DDR-Unrecht, um anderen das Recht auf politische Gestaltung abzusprechen.
"Deshalb kann es uns nicht darum gehen, das Erbe der Friedlichen Revolution in Glasvitrinen und Sonntagsreden über Demokratie und Freiheit zu konservieren"
Zwanzig Jahre nach der Friedlichen Revolution ist es Zeit aufzuhören, die Vergangenheit für die Politik der Gegenwart zu instrumentalisieren. Wir brauchen keinen Schlussstrich, wohl aber einen ebenso ehrlichen wie gelassenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit.
Wenn ehemalige Kader von SED und Blockparteien ihre Biografien kritisch aufarbeiten würden, statt sie zu beschönigen, wenn sie zu ihrer eigenen damaligen Verantwortung stehen würden, statt sie zu relativieren, wäre viel für die politische Kultur in Sachsen getan. Wenn die einen aufhören, die vermeintlichen Errungenschaften der DDR im Interesse der eigenen heutigen Sache im Nachhinein zu legitimieren und die anderen es lassen, in einem Teil der politischen Landschaft immer nur die SED-Erben zu sehen, könnten wir uns endlich über die uns einigenden Werte nach der Friedlichen Revolution verständigen.
Der zentrale Impuls der Friedlichen Revolution ist für uns die Selbstermächtigung zum politischen Handeln durch in Sachen Demokratie wenig geübte Akteure – diese Fähigkeit ist auch und gerade in Ostdeutschland und in Sachsen keineswegs selbstverständlich und muss beständig eingefordert und geübt werden. So weiß heute jede und jeder demokratisch Engagierte um die Mühen, Vorschläge für Problemlösungen Realität werden zu lassen. Es fällt schwer, sich in der Meinungsvielfalt und Informationsflut zu orientieren. Es kostet Anstrengung und Beharrungsvermögen, eine eigene Meinung zu vertreten und Mehrheiten zu organisieren.
Wir wollen gerade in Sachsen, wo politisches und zivilgesellschaftliches Engagement vielfach nur ein zartes Pflänzchen ist, zu mehr Einmischung in die eigenen Angelegenheit aufrufen. Nach wie vor kommt es auf das Engagement von Einzelnen und deren Zusammenwirken an. Mut zum Denken in Alternativen und Courage beim unangepassten Handeln sind unverzichtbar. Sich politisch zu betätigen erfordert persönlichen Aufwand. Die Gestaltung der Zukunft darf nicht zur Expertensache werden.
Wo andere aufhören, wollen wir anfangen. Für uns sind die Friedliche Revolution und ihre Werte nichts, was mit wohlfeilen Erinnerungsreden ad acta gelegt werden sollte, sondern etwas, das beständig wachgehalten werden muss – auch und gerade jenseits der großen öffentlichkeitswirksamen Debatten. Viele Impulse, Themen und Ziele der Revolutionäre von 1989 weisen über die Reform der DDR oder ihren Sturz hinaus. Wir wollen auch künftig den Blick auf Aspekte der Friedlichen Revolution richten, von denen wir meinen, dass sie für die Entwicklung der gegenwärtigen Demokratie und die Bewältigung heutiger Probleme eine Bedeutung haben. Wir finden: Es ist Zeit für eine neue politische Kultur in Sachsen, die Friedliche Revolution könnte das Band sein, das uns eint.