Datum: 02. November 2012

PM 2012-357: Ein Jahr NSU, ein Jahr Versäumnisse und Fehler

Ein Jahr nach dem Bekanntwerden der Verbrechen der Zwickauer Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund – NSU" erklärt Miro Jennerjahn, Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtags für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
"Sowohl die Aufklärung der Verbrechen des Terrortrios als auch das Handeln der sächsischen Staatsregierung nach Bekanntwerden der Terrorzelle sind bis heute maßgeblich von Versäumnissen und Fehlern geprägt."
"Fast drei Wochen benötigte Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) im vergangenen Jahr, um in einer Pressekonferenz am 22. November 2011 sein Schweigen zu brechen und die schrecklichen Mordtaten des NSU zu verurteilen. Zu diesem Zeitpunkt hatte seine Kollegin Christine Lieberknecht (CDU) in Thüringen bereits eine Untersuchungskommission (die sog. Schäfer-Kommission) eingesetzt, die das Behördenversagen untersuchen sollte. Während die Schäfer-Kommission innerhalb weniger Monate einen mehrere hundert Seiten langen, äußerst detaillierten Abschlussbericht vorlegte, umfasste der so genannte vorläufige Abschlussbericht des sächsischen Innenministers Markus Ulbig (CDU) gerade einmal 23 Seiten. Dass dieser Abschlussbericht unvollständig ist, haben die vergangenen Monate mehr als deutlich gemacht. Über eine Informationsveranstaltung der Besondere Aufbauorganisation (BAO) ‚Bosporus‘ in Sachsen im März 2007 informierte der Bericht ebenso wenig wie über die G10-Maßnahme ‚Terzett‘, mit der im Sommer 2000 das enge Unterstützerumfeld des NSU-Trios überwacht wurde oder über Ermittlungen des BKA in der Staatskanzlei im Zusammenhang mit den Ceska-Morden im Jahr 2007."
"Von einer Aufklärung der Versäumnisse sächsischer Behörden bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus ist Sachsen selbst ein Jahr nach dem Bekanntwerden des NSU noch weit entfernt. Eigene Aufklärungsinstrumente hat die sächsische Staatsregierung immer abgelehnt. Erst als der Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos zurückgetreten ist, setzte Innenminister Markus Ulbig im Juli 2012 eine Kommission zur ‚Neuordnung des sächsischen Verfassungsschutzes‘ ein. Dass er in diese Kommission ausgerechnet den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Baden-Württembergs, Helmut Rannacher, beruft, in dessen Amtszeit ein Mitarbeiter seiner Behörde den rechtsextremen Ku-Klux-Klan über eine Observationsmaßnahme informierte, ist nicht nur unglücklich. Es belegt, wie wenig sensibel Ulbig vorgeht. Er konnte sich offenbar noch im Juli vorstellen, dass die Chefs anderer Verfassungsschutzbehörden ausreichend integer sind, Sachsen bei der Aufklärung der eigenen Versäumnisse zu helfen. Er hätte es besser wissen können."
"Während Thüringen strukturelle Reformen beim Verfassungsschutz ankündigt und sich künftig auf die Beobachtung des Rechtsextremismus beschränken will, will die mit dem Makel ‚Rannacher‘ besetzte sächsische Kommission erste Ergebnisse erst im kommenden Jahr vorlegen. Ministerpräsident Tillich sucht derweil sein Heil in einem hoch riskanten NPD-Verbotsverfahren und lenkt damit vom sächsischen Versagen ab."
"Trauriger Höhepunkt der letzten Monate war die Einsetzung des sächsischen NSU-Untersuchungsausschusses am 7. April 2012: Während alle anderen Untersuchungsausschüsse in Thüringen, im Bundestag und zuletzt in Bayern auch von CDU und FDP eingesetzt wurden, verweigerte sich die Regierungskoalition in Sachsen diesem Schritt. Mehr noch, die demokratische Opposition musste sich vorwerfen lassen, sie errichte einen NPD-Informationsausschuss. Entsprechend gering ist auch das Interesse der Ausschussmitglieder beider Parteien an einer zügigen Aufklärung der Behördenversäumnisse im Untersuchungsausschuss bzw. an der Arbeit des Ausschusses generell."
"Dass der sächsische Untersuchungsausschuss bislang nur sehr zäh zu Erkenntnissen gelangt, liegt nicht zuletzt auch an der Handhabung der Aktenlieferung an den Ausschuss. Dies wird deutlich an den Unterlagen, die die sächsische Polizei zu den Banküberfällen des Trios hatte. Hieß es bis Anfang Oktober 2012, dass sämtliche Unterlagen dazu beim Generalbundesanwalt seien und dieser über die Freigabe entscheide, tauchten Anfang Oktober plötzlich Arbeitsduplikate der Unterlagen beim LKA auf, die dem Ausschuss übersandt wurden. Von der Existenz dieser Unterlagen war den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses bis dahin nichts bekannt."
"Möglicherweise schlummern bei sächsischen Behörden noch weitere Erkenntnisse über die Mitglieder des NSU und sein Unterstützernetzwerk. Ob diese je ans Tageslicht befördert werden, ist ungewiss. Die Staatsregierung und Innenminister Markus Ulbig haben es bis zum heutigen Tag nicht vermocht, eine zentrale Erfassungsstelle für Informationen zum NSU einzurichten. Auch sind sächsische Richter, Staatsanwälte, Polizisten und sonstige Beamte nach dem 4. November 2011 niemals aufgefordert wurden, Erkenntnisse, die sie zum NSU seit 1998 haben, an eine zentrale Stelle oder Ministerien weiterzugeben. Dies geht aus der Antwort auf meine Kleine Anfrage hervor. Auch dies zeigt, mit wie wenig Interesse und Struktur die sächsische Staatsregierung Aufklärung zum NSU betreibt."

Hintergrund:
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» Kleine Anfrage "Ermittlungen der Staatsregierung zu Erkenntnissen sächsischer Behörden zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)" (Drs. 5/10297)
Erklärung zur ‚Besonderen Aufbauorganisation (BAO) (Quelle Wikipedia): Bereits 2006 galten die für die Ermittlungen eingesetzten Sonderkommissionen unter Koordination der sogenannten Besondere Aufbauorganisation (BAO) Bosporus aus Nürnberg, mit 50 Beamten unter Leitung von Kriminaldirektor (LKD) Wolfgang Geier, als die größten, die es in Deutschland je gab.[14] Zeitweise waren 160 Beamte aus mehreren Bundesländern an der Fahndung beteiligt, insgesamt gab es sieben Sonderkommissionen.
» mehr Informationen zur Arbeit des NSU-Untersuchungsausschuss