Prostitution in Sachsen aus dem Dunkeln holen – Große Anfrage zeigt, Staatsregierung hat kaum Wissen
(2015-252) Seit der Verabschiedung des Prostitutionsgesetzes der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2002 gibt es regelmäßig öffentliche Debatten über dessen Reformbedarf. Seit einem Jahr diskutieren Union und SPD auf Bundesebene die Eckpunkte einer Novellierung. Da die Auswirkungen auch die Länder und Kommunen betreffen, hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag eine Große Anfrage eingereicht, um eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema auch in Sachsen zu ermöglichen.
Die Antwort auf die Große Anfrage ist jedoch ernüchternd und legt die Vermutung nahe: Die Staatsregierung nimmt Menschenhandel, Zwangsprostitution und Prostitution in Sachsen nicht ernst.
"Wer Menschenhandel bekämpfen will, braucht umfassende Faktenkenntnis", erklärt Eva Jähnigen, rechtspolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag.
"Aber genau diese Erkenntnisse werden gar nicht gesucht. Dass im Laufe der Jahre 2006 bis 2014 nur 141 Tatverdächtige wegen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ermittelt wurden, bedeutet vor allem eins: Die Dunkelziffer muss deutlich höher sein. Das lässt schon Sachsens geographische Lage vermuten. Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt. Wer nichts tut, wird keinen Menschenhandel feststellen können."
Verglichen mit der Anzahl der eingeleiteten Verfahren ist die Anzahl der Verurteilungen erstaunlich gering. Von den 141 Tatverdächtigen wurden lediglich 23 verurteilt. Dies spricht für erhebliche Schwierigkeiten bei der Beweiserhebung.
"Insbesondere der Menschenhandel verlangt den Einsatz der Strafverfolgungsbehörden. Die ermittelten Fälle von Menschenhandel sind in Sachsen (2009: 5 Fälle, 2013: 25 Fälle) auffallend niedrig. Bayern, als Flächenland mit vergleichbarer geographischer Lage ermittelte im gleichen Zeitraum 2013 zumindest 29 Fälle, Berlin sogar 84.
"Völlig unverständlich ist auch, dass sich zwar die Betreuung der Opfer durch die Fachberatungsstelle KOBRAnet oft förderlich auf die Aussagebereitschaft auswirkt, aber die Mitarbeiterinnen nicht bei allen in Sachsen bekannt gewordenen Fällen von den Ermittlungsbehörden zurate gezogen werden", erklärt Jähnigen.
"Wir schätzen die Arbeit von KOBRAnet sehr und begrüßen die Zusammenarbeit mit der Polizei. Zweifelhaft ist, ob die finanzielle Ausstattung mit zwei Stellen ausreichend ist."
"Aber auch legale Prostituierte, deren rechtliche und soziale Situation durch das seit 2002 beschlossene Prostitutionsgesetz verbessert werden sollte, müssen aufgrund ihrer tendenziell riskanteren Tätigkeit besonders geschützt werden", fordert die Abgeordnete. "Prostitution ist gesellschaftliche Realität. Die Staatsregierung ist daher verpflichtet, Straftaten, die mit Prostitution einhergehen, zu bekämpfen.
"In Sachsen existieren – anders als in Ländern wie Berlin, Hamburg, Bremen, Bayern oder Hessen – keine spezifischen Beratungsstellen für Prostituierte, weder zu Risiken beim Einstieg noch zum Ausstieg noch bei sonstigem Beratungsbedarf. Die Staatsregierung plant jedoch nicht, in absehbarer Zukunft derartige Beratungen anzubieten", sagt die Abgeordnete.
"Um die Situation von legalen Prostituierten zu verbessern, haben andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Niedersachsen und künftig Mecklenburg-Vorpommern sog. Runde Tische ins Leben gerufen. Sie sollen ressortübergreifend Maßnahmen in diesem Bereich koordinieren."
"Die öffentlichen Kassen verzeichnen darüber hinaus Einnahmen durch Prostitution – allerdings mit hohen regionalen Unterschieden, die nicht verständlich sind. Während in Chemnitz über 4.000 Prostituierte am Düsseldorfer Verfahren* teilgenommen haben, sind es in Dresden nur 260 und in Leipzig 968. Zwar sind einzelne Prostituierte mehrfach gezählt worden, u.a. weil sie ihre Dienste an wechselnden Orten anbieten, nichtsdestoweniger machen die Zahlen unterschiedliche Herangehensweisen der Behörden deutlich."
Tritt das Prostituiertengesetz so in Kraft, wie es jetzt vorliegt, hat dies auch Auswirkungen auf die Länder und Kommunen. So müssen Kommunen künftig Bordelle genehmigen und Prostituierte registrieren. Außerdem ist eine jährliche Gesundheitsberatung Pflicht, für Prostituierte unter 21 Jahren sogar eine halbjährliche. Können Prostituierte kein Deutsch, müssen sie in ihrer Muttersprache informiert werden.
Wie z.B. die im Gesetz vorgesehene Kondompflicht für Freier überprüft werden soll, ist nicht nur der Deutschen Polizeigewerkschaft schleierhaft. Dennoch sieht die Staatsregierung bisher nicht die Notwendigkeit, sich mit der landesrechtlichen Umsetzung auseinanderzusetzen.
"Ingesamt offenbart die Große Anfrage vor allem große Wissenslücken der Staatsregierung", kritisiert Jähnigen.
"Im Bereich des Menschenhandels zum Zweck sexueller Ausbeutung hat die Staatsregierung weder Erkenntnisse zu Kontrollen durch die sächsische Polizei noch zu Durchsuchungen durch andere Behörden. Demnach hat die Staatsregierung auch keine Ahnung davon, wie effizient im Freistaat Sachsen die Strafverfolgung in diesem Deliktfeld überhaupt ist."
"Ob es Zeugenschutzmaßnahmen im Rahmen von Ermittlungs- und Strafverfahren wegen Menschenhandels gibt, konnte die Staatsregierung ebenso wenig beantworten, wie die Frage, wie die Aufklärungsquote erhöht und die Strafverfolgung von Täterinnen und Tätern erleichtern werden könne. Geklärt werden muss, warum die Beweiserhebung und -verwertung so schwierig ist und wie das geändert werden kann."
In der Berliner Spezialdienststelle zur Bekämpfung des Menschenhandels verfügen die Beamten über eine spezielle Ausbildung. Die sächsischen Bediensteten sind hingegen weder spezifisch geschult noch gibt es entsprechende Spezialabteilungen in den Polizeidirektionen. Dies ist unumgänglich, um im Bereich Menschenhandel und Zwangsprostitution handlungsfähig zu sein."
"Für den Bereich Prostitution liegen keine verlässlichen Zahlen zur Anzahl der in Sachsen tätigen weiblichen, männlichen und transsexuellen Prostituierten im allgemeinen und dem Umfang der Straßenprostitution im Besonderen vor. Auch kann die Staatsregierung keine Aussagen zur Anzahl von Prostitutionsstätten oder über die Entwicklung der Prostitution in Sachsen in den vergangenen 15 Jahren treffen. Antworten auf die Fragen, wie hoch der Anteil ausländischer und minderjähriger Prostituierter ist, bleibt sie ebenso schuldig.
Folglich konnte die Staatsregierung auch keine Angaben machen, wie viele Prostituierte in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung tätig und wie viele krankenversichert sind."
"Der in anderen Bundesländern praktizierte Runde Tisch zur Verbesserung der Situation legaler Prostituierter wäre auch für Sachsen ein wichtiger Schritt. Nicht zuletzt sollten die Beratungsstellen finanziell solide ausgestattet werden."
*Düsseldorfer Verfahren: pauschale Steuererhebung, die als eine Vorauszahlung auf die Einkommens- und Umsatzsteuerschuld angerechnet wird
» Auswertung Große Anfrage "Menschenhandel, Zwangsprostitution und Prostitution" (Drs. 6/1120)
» Die Große Anfrage "Menschenhandel, Zwangsprostitution und Prostitution" (Drs. 6/1120)