Podiumsdiskussion „Gemeinschaftsschulen für alle!“ am 20. April in Pirna
Am 20. April 2023 lud die BÜNDNISGRÜNE Landtagsfraktion zur inzwischen fünften Veranstaltung unter dem Titel „Gemeinschaftsschulen für alle!“ in das Diakonie- und Kirchgemeindezentrum in Pirna-Copitz. Nach den Runden in Leipzig, Bautzen, Dresden und Markranstädt diskutierte die bildungspolitische Sprecherin Christin Melcher mit ihren Podiumsgästen aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge: Eine Schule für alle, (wie) geht das? Wo in Sachsen ergibt die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule oder Oberschule+ Sinn, wie ist die Ausgangslage in Stadt und Land? Und welche Veränderungen braucht es hinsichtlich des Lehramtsstudiums, der Lehrer*innen-Rolle, des Unterrichts, des Bildes vom Kind?
Als Referent*innen kamen zusammen: Anne Kolbe, Sprecherin der Elterninitiative der Maria Montessori Schule in Lohmen (Grundschule in Gründung), Nino Haustein, Lehrer an der Universitätsgemeinschaftsschule Dresden, Lilly Härtig, Vorsitzende des Landesschülerrates Sachsen, und Paul Löser, BÜNDNISGRÜNER Stadtrat in Sebnitz und Lehramtsstudent. Christin Melcher führte als Moderatorin durch den Abend.
„Wir haben gejubelt, als die Gemeinschaftsschule kam. Heute ist die Bilanz gemischt.“ (Anne Kolbe)
Im Rückblick auf den erfolgreichen Volksantrag zur Einführung der Gemeinschaftsschule beschrieb Nino Haustein eine seltene Aufbruchstimmung. Der eigentlichen Änderung des Schulgesetzes folgte hingegen Ernüchterung, da es insbesondere für ländliche Räume kaum möglich sei, die neue Schulform tatsächlich einzurichten. Paul Löser freute sich insbesondere über die Perspektive, Schulstandorte zu erhalten, wenngleich auch seine Freude durch die hohen schulgesetzlichen Hürden getrübt wurde. Im Landesschülerrat wurde das längere gemeinsame Lernen intensiv, aber auch sehr unterschiedlich diskutiert, berichtete Lilly Härtig. Anne Kolbe sprach von Jubel, aber ebenso von einem „Kampf gegen Windmühlen“. Dieser habe dazu geführt, dass man trotz der Option Gemeinschaftsschule/Oberschule+ zunächst die Gründung einer Grundschule anstrebe.
„Die schulgesetzlichen Hürden sind hoch, die baulichen Voraussetzungen fehlen – und wir haben einfach kein Geld für eine neue Schule auf der grünen Wiese.“ (Paul Löser)
Mit Blick auf Pirna und das Umland verwies Paul Löser auf eine gute Auslastung der weiterführenden Schulen. Dadurch wäre der Platz und die baulichen Voraussetzungen für eine Gemeinschaftsschule oft nicht gegeben – und Geld für einen Neubau wäre ebenso wenig vorhanden. Dass es auch für Schulen in freier Trägerschaft schwierig ist, die nötigen Fördermittel zu akquirieren, stellte Anne Kolbe klar. Man sei auf private Spenden angewiesen. Im Gegenzug gebe es freie Hand bei der Konzeptionierung und der Lehrkräfteauswahl sowie eine umfassende Einbeziehung der Elternschaft. Nino Haustein stellte aus Sicht der Lehrkraft heraus, dass das größte Problem an Schulen in freier Trägerschaft das Gehalt sei; kritisch sei zudem, wenn Unternehmen oder Firmen mit Gewinnabsichten bei Bildungseinrichtungen mitmischten. Lilly Härtig wertete die Gemeinschaftsschule als Stadt-Thema, das maßgeblich von Schüler*innen freier Schulen vorangetrieben werde. Paul Löser erinnerte daran, dass viele Menschen in Sachsen entsprechend sozialisiert seien und dem längeren gemeinsamen Lernen offen gegenüberstünden. In seinem Lehramtsstudium bemerke er aber auch eine „gymnasiale Blase“, in der es mehr Skepsis und Vorbehalte gebe und wo ungleich mehr Überzeugungsarbeit nötig sei.
„Die Gemeinschaftsschule schafft Stress aus der Welt.“ (Lilly Härtig)
Im Anschluss stellte Anne Kolbe die Pläne für die Maria Montessori Schule näher vor. Die Schule soll mit der Primarstufe zum Schuljahr 2023/24 starten und dann aufwachsen. Perspektivisch soll der Weg für die Kinder, ohne Bildungsempfehlung, an der selben Schule fortgesetzt werden können, es stehe aber noch nicht fest, ob in Form einer Gemeinschaftsschule oder einer Oberschule+. Nino Haustein beschrieb die Schulpraxis an der Universitätsgemeinschaftsschule, die als Versuchsschule einen Sonderstatus hat: das System aus Grund-, Mittel- und Oberstufe, das fächerübergreifende Lernen an konkreten Themen und Projekten, den freien und mit zunehmendem Alter selbstständig gesteuerten Lernprozess. Die in einem gemeinsamen Bildungsgang notwendige Binnendifferenzierung sei eine pädagogische Herausforderung, er stelle aber fest, dass letztlich sogar mehr Zeit für die Schüler*innen bleibt, die mehr Zeit brauchen. Dafür sei eine gute Ausbildung und Vorbereitung der Lehrkräfte wichtig. Lilly Härtig teilte die Einschätzung, dass viele Lehrer*innen mit der Differenzierung überfordert sind, der Druck an den Schulen sei enorm, auch für die Lehrkräfte. Die Gemeinschaftsschule können Stress aus der Welt schaffen. Paul Löser zeigte sich überzeugt, dass die Trennung in Schularten gesamtgesellschaftlich schädlich sei und Gemeinschaftsschule eine Chance böten, diese Trennung zu überwinden.
„Inklusion spielt eine zu geringe Rolle in der Lehramtsausbildung.“ (Nino Haustein)
Lilly Härtig attestierte den Lehrkräften in der Mehrzahl viel „Herzblut“, erinnerte aber auch an die, die in ihrem Beruf unglücklich – oder überfordert – seien. Es sei eine wichtige Gelingensbedingung, dass Lehrer*innen die Gemeinschaftsschule wollen. Paul Löser kritisierte die große Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis im Lehramtsstudium und die Trennung nach Schularten, die bereits im Studium beginne. Die Unsicherheit von Lehrer*innen im Schuldienst sei auch mit Defiziten in der Ausbildung zu begründen. Nino Haustein ordnete ein, dass Oberschullehrkräfte ohnehin für zwei Bildungsgänge „gewappnet“ seien, auch Lehrkräfte an beruflichen Schulen seien im Vorteil, da sie oftmals im Berufsgrundbildungsjahr ebenso unterrichten (können) wie am Beruflichen Gymnasium. Grundsätzlich würde Inklusion in der Lehramtsausbildung zu kurz kommen, ebenso die Themen Differenzierung, Teamwork, Schulmanagement und Schulorganisation – diese Themen seien auch für die Bestandslehrkräfte von großer Bedeutung. Für viele seien bestehende Prüfungsformate ein Problem, Schule, Unterricht und Lernen neu zu denken. Die Prüfungsformate sollten aus seiner Sicht deshalb dringend überdacht werden.
„Wir müssen die Leuchtturm-Schulen in die Fläche kriegen. Die Skepsis entsteht aus der Denke der Eltern, nicht aus der Denke der Kinder.“ (Veranstaltungsteilnehmerin)
Im Anschluss hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, Fragen zu stellen und Statements abzugeben. Es wurde beherzt und engagiert über Akzeptanz, Befähigung und Perspektiven diskutiert. Abschließend nannten die Podiumsgäste ihre Wünsche, damit die Gemeinschaftsschule in ganz Sachsen „Fuß fassen“ kann: Paul Löser zeigte sich dankbar für die gegebene Option, warb aber auch für ein schrittweises Vorgehen und klare Aufträge. Lilly Härtig lobte die Runde als unterstützend für die Sache und mahnte an, dass weiterhin Unterstützung insbesondere für die Lehrkräfte wichtig sei. Nino Haustein formulierte die Hoffnung, dass es gelingt, Herausforderungen zu meistern, offen zu bleiben und Schule gemeinsam neu zu denken. Anne Kolbe wünschte sich mehr Mut zur Lücke und bleibende Neugier.
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