Datum: 09. November 2022

Sondervermögen – Lippmann: Notsituation ist verfassungsrechtlich nicht gedeckt

Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zum Antrag der Fraktion DIE LINKE: „Vorliegen einer außergewöhnlichen Notsituation nach Artikel 95 Abs. 6 Satz 1 i. V. m. Artikel 95 Abs. 5 Satz 1 der Sächsischen Verfassung aufgrund der landesweiten Wirkungen von Energiekrise, Preissteigerungen und Inflation feststellen: Vorhandene Kreditermächtigung für Härtefall-Fonds nutzen!“ Drs 7/11076

59. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 9.11.2022, TOP 8

– Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

als der Sächsische Landtag am 09. April 2020 erstmals in seiner Geschichte das Vorliegen einer außergewöhnlichen Notlage beschloss, war dies zweifelsohne ein historischer Beschluss. Nicht nur, weil der Landtag in Anbetracht der Pandemie mit Abstand im Kongresszentrum tagen musste, sondern weil die Feststellung der Notlage eine absolute Ausnahmesituation der Verfassung darstellt. In Anbetracht der Auswirkungen der Pandemie als eine so noch nie dagewesene Krisensituation war der Schritt damals unausweichlich und richtig, um die Handlungsfähigkeit des Freistaates zu sichern.

In Anbetracht der Krise, die sich seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine entwickelt hat und die mittlerweile konkret in Sachsen zu spüren ist – an der Supermarktkasse, bei den Nebenkostenabrechnungen oder in den Produktionskosten, ist klar: Wie 2020 muss der Staat auch jetzt helfen und ebenso klar ist, die Auswirkungen werden auch vor dem Staatshaushalt keinen Halt machen. Somit scheint es zunächst logisch, den Schritt der Feststellung einer Notlage erneut zu gehen, wie es die LINKE begehrt.

Doch anders als 2020 bleibt, so viele Sympathien man für den Antrag der LINKEN aus politischen Gründen auch haben mag, dieser Weg nach Art. 95 Abs. 5 SächsVerf diesmal von Verfassungswegen verschlossen.

Dazu muss noch einmal die entsprechende Verfassungsregelung eingehend betrachtet werden.
Hierbei möchte ich vorausschicken, dass sich unseres Erachtens in den vergangenen zwei Jahren und mit Blick auf die kommenden Monate verdeutlicht hat, dass die spezifisch sächsische Kombination aus enger Notlagedefinition, restriktiver Tilgungsfrist und kleinkarierter Konjunkturkomponente schlicht den Praxistest nicht bestanden hat und alles andere als Verfassungsmedaillenwürdig ist. Hier braucht es dringend weitere Verständigungen zu einer Anpassung. Aber: Die Verfassungslage folgt nicht den Wunschvorstellungen der Politik, sondern dem Verfassungstext.

Und nach dieser braucht es für die Feststellung der Notlage eine außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt.
Der Begriff der außergewöhnlichen Notsituation ist verfassungsrechtlich nicht definiert. Seine Bedeutung und Reichweite muss daher über Auslegung ermittelt werden. Die außergewöhnliche Notsituation unterscheidet sich im Wortlaut bereits sowohl von der „Normalsituation“ als auch von der „gewöhnlichen Notsituation“ – wenngleich eine gewöhnliche Notsituation zunächst schwierig vorstellbar ist. Diese Abgrenzung erfolgt bewusst, um unter anderem deutlich zu machen, dass es sich nicht um „bloße“ konjunkturelle Notlagen handelt. Blickt man in die Begründung der Änderung, waren es vor allem Naturkatastrophen oder ein Bankencrash, den man vor Augen hatte, also starke Schockmomente mit unmittelbaren Folgen.

Anders als bei Corona müssen hier bereits erste Zweifel kommen: Eingedenk der Tatsache, dass der russische Überfall auf die Ukraine nunmehr über ein halbes Jahr zurückliegt, und seine Konsequenzen schon damals zumindest absehbar waren, ist angesichts der nun explodierenden Preise und einer drohenden Rezession nicht mehr von einem plötzlichen Schadensereignis auszugehen.

Die aktuelle Preiskrise dürfte nicht oder zumindest nicht mehr in den Anwendungsbereich des Art. 95 Abs. 5 fallen – denn Wortlaut und telos der Norm indizieren eine notwendige auch zeitliche Nähe zwischen dem exogenen Grund für die Notsituation und deren Eintreten. Schließlich soll die außerordentliche Ermächtigung zur Kreditaufnahme staatliche Handlungsfähigkeit garantieren, wenn überraschend eine Notsituation entsteht. Dieses überraschende Moment kann aber nunmehr über ein halbes Jahr nach Beginn des Angriffskrieges eben nicht mehr angenommen werden.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
dieser Befund wird durch eine kritische Beleuchtung der weiteren Tatbestandsmerkmale – Entzug der staatlichen Kontrolle und erhebliche Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage – noch mehr verdichtet.

Nähern wir uns zunächst dem Punkt „der erhebliche Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage“. Hier muss man konstatieren: Die Preisanstiege beeinträchtigen auf der Einnahmeseite die staatliche Finanzlage bisher kaum. Anders als bei Corona sind genau aufgrund der Inflation keine erheblichen Steuereinbrüche zu erwarten, vielmehr steigen diese trotz Rückgang der Wirtschaftsleistung – gleichwohl sinkt natürlich die Kaufkraft des Geldes, was aber alleine nicht geeignet sein dürfte, die erhebliche Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage zu besorgen. Natürlich kann nun eingewandt werden, dass die Ausgaben zur Abfederung der Krise den Staat so übermäßig belasten, dass er dafür Geld in erheblichen Umfang zur Verfügung stellen muss.

Aber genau an diesem Punkt müssen wir uns der Frage näher, ob sich die aktuelle Krise drittens der staatlichen Kontrolle entzieht. Und spätestens hier ist man selbst mit der wohlwollensten Auslegung am Ende.

Denn noch einmal zum Verständnis: Die Krise ist hier verfassungsrechtlich nicht der grausame und völkerrechtswidrige Krieg, sondern seine marktwirtschaftlichen Auswirkungen in Deutschland – und diese entziehen sich schlicht nicht der staatlichen Kontrolle. Anders als bei der exponentiellen Verbreitung eines Virus ist es möglich, exponentielle Preisanstiege staatlich zu regulieren. Das zeigt auch der Antrag der LINKEN am morgigen Tage, in dem selbiges begehrt wird. Egal, ob man das richtig findet, die LINKE bricht hier ihre eigene Argumentation und bemerkt diese Inkonsistenz nicht einmal.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
bei allem Verständnis für diesen Antrag, scheitert er an den Maßgaben der Verfassung, die auf eine solche spezifische Situation schlicht nicht ausgerichtet ist.

Dies gilt umso mehr, als dass absehbar ist, dass im kommenden Jahr der Konjunkturmechanismus der Verfassung zu versagen droht, wenn Rezession und Kaufkraftverlust auf inflationsbedingte Steuermehreinnahmen trifft. Das zeigt uns: Nicht die den Verfassungstext überdehnende Feststellung der Notlage ist angezeigt, sondern die Reparatur einer gerade einmal neun Jahre alten Verfassungsregelung.

Während uns also derzeit die Verfassung enge Grenzen für die Aufnahme neuer Kredite vorgibt, heißt das keineswegs, dass wir den Menschen, kleine und mittlere Unternehmen oder Kommunen in der Krise im Stich lassen werden. Deswegen haben wir in unseren Haushaltsverhandlungen ein sächsisches Hilfspaket entwickelt, das die Betroffenen in der kommenden Zeit unterstützen soll. Denn es ist klar: Der Staat muss helfen und er kann es auch – ohne die Verfassung zur überdehnen.

Vielen Dank.