Datum: 10. September 2025

Aktuelle Debatte 75 Jahre Charta der Heimatvertriebenen – Schubert: Erinnerung ist kein Selbstzweck, sie ist eine Grundlage unserer Demokratie

Redebeitrag der Abgeordneten Franziska Schubert (BÜNDNISGRÜNE) zur Ersten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion DIE LINKE: „Sozialstaat sichern, Superreiche gerecht besteuern – gegen einen Herbst der Ungerechtigkeit“

18. Sitzung des 8. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 10.09.2025, TOP 2

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir debattieren heute über 75 Jahre Charta der Heimatvertriebenen. Für mich ist das kein abstraktes Thema – es ist Teil meiner eigenen Familiengeschichte.

Meine Großeltern mütterlicherseits wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Sudeten vertrieben. Mein Großvater war bis 1948 in französischer Kriegsgefangenschaft, meine Großmutter hatte 1945 einen einjährigen Sohn, als sie ohne ihren Mann heimatvertrieben wurde.

Diese Erfahrung hat ihre Biografie geprägt – und sie wirkt bis heute in meiner Familie nach. Ich erinnere mich, wie ich all diese Orte mit besuchte, als die Grenzen endlich offen waren; die Bauernhöfe, das Wegekreuz, den Friedhof, das damalige Deutsch-Gabel; wie mich meine Großmutter mitnahm auf Treffen der Sudetendeutschen.

Ich selbst bin als Politikerin immer wieder bei den Treffen der Böhmischen Niederländer in Seifhennersdorf gewesen. Dort habe ich erfahren, wie Erinnerung weitergetragen wird. Und wie sie das Erlebte mit der Gegenwart verbinden.

Die Charta von 1950 – eine historische Leistung, aber auch kritisch einzuordnen. Wenn wir auf die Entstehung der Charta der Heimatvertriebenen schauen, dann müssen wir beides würdigen:

Zum einen war es eine visionäre Entscheidung, damals 1950 auf Rache und Vergeltung zu verzichten – und stattdessen Integration und ein geeintes Europa einzufordern. Das war eine echte Leistung.

Zum anderen finden wir dort auch das „Recht auf Heimat“ als gottgegebenes Grundrecht. Historisch verständlich, aus dem Schmerz der Vertreibung geboren – aber heute eine Formulierung, die wir kritisch reflektieren sollten.

Und: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Charta den Fokus vor allem auf das Leid der deutschen Vertriebenen legte. Die Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistischen Verbrechen kommt darin kaum vor. Das gehört zur ganzen Wahrheit und muss benannt werden.

Erinnerungskultur heute – was wir daraus machen.
Ich bin überzeugt: Erinnerung ist kein Selbstzweck. Sie ist eine Grundlage unserer Demokratie. Wenn wir geschichtsvergessen werden, dann öffnen wir Tür und Tor für Populismus und für Relativierungen, die gefährlich sind.

Deshalb würdigen wir den Beitrag der Charta – ja. Aber wir müssen Erinnerungskultur immer weiterentwickeln: Sie muss Haltung, Verantwortung und Vielfalt verbinden.

Was heißt das für die Gegenwart?

Erstens: Erinnerung darf nicht exklusiv sein. Wir müssen auch die Perspektiven unserer Nachbarländer einbeziehen, und auch die Geschichten anderer Gruppen, die unter Krieg, Diktatur oder Vertreibung gelitten haben.

Zweitens: Es braucht mehr politische Unterstützung (auf Landes- wie auch auf kommunaler Ebene) für Projekte, die unsere Demokratie stärken – Gedenkstättenarbeit, historische Bildung, interkulturelle Initiativen. Gerade heute, wo wir wieder mehr Feindlichkeit und Demokratieverachtung erleben, ist das unerlässlich.

Drittens: Wir müssen junge Menschen einbinden. Mit Zeitzeugenprojekten, mit Schüleraustausch, mit grenzübergreifenden Begegnungen. Denn Erinnerung lebt nur weiter, wenn die nächste Generation sie mitgestaltet.

Viertens: Die Erzählungen von Vertreibung und Flucht, das Aufgenommenwerden und die Zurückweisung, der Kampf um ein neues Leben, der Schmerz des Verlusts von Heimat: All das stattet uns mit dem aus, was wir auch im Umgang mit Schutzsuchenden zeigen sollten: Mitgefühl. Auch das ist eine Ehrbezeugung und Verneigung vor dem Schicksal der Heimatvertriebenen unserer Familien.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
gelingendes Erinnern geht weit über bloße Symbolik hinaus. Es schafft Verständigung im Hier und Jetzt. Es verbindet Menschen über Grenzen hinweg.

75 Jahre Charta der Heimatvertriebenen – das ist für uns Auftrag: für eine demokratische, solidarische und versöhnliche Erinnerungskultur in Sachsen. Damit wir das Erbe der Vergangenheit nicht nur bewahren, sondern es in die Zukunft tragen und in der Gegenwart mit Würde ausstatten im Umgang mit Jenen, die zu uns kommen.

Vielen Dank.