Aktuelle Debatte Wiedervereinigung – Schubert: Es müssen Lücken geschlossen werden, die seit den 1990ern geblieben sind
Redebeitrag der Abgeordneten Franziska Schubert zur Ersten Aktuellen Debatte auf Antrag der Fraktion BSW: „1989-2025: Wiedervereinigung ohne Einheit – Zweite Wende statt Zeitenwende!“
19. Sitzung des 8. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 11.09.2025, TOP 1
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die Wiedervereinigung ist ein besonderes Ereignis in der Geschichte Ostdeutschlands. Die politische Diskussion hierzu schaut oft nur auf die wirtschaftlichen Folgen der Einheit und die institutionellen Herausforderungen. Beides ist wichtig, aber eben nicht alles. Die Wiedervereinigung, der politische und der gesellschaftliche Umbruch, hat die Menschen im Osten – und eben nur die – bis ins Privatleben hinein betroffen und dieses unumkehrbar verändert.
Diese Ambivalenz – zwischen Verlust und Aufbruch – prägt bis heute das Lebensgefühl vieler Ostdeutscher.
Ich bin 1982 geboren und in Ostsachsen aufgewachsen. Meine prägenden Jahre waren die 1990er Jahre – die Zeit, in der sich unser Land völlig neu sortierte. Ich habe miterlebt, wie Betriebe verschwanden, wie Menschen ihre Arbeit verloren, wie Familien auseinandergerissen wurden, weil viele wegziehen mussten. Pendeln gehörte zur Realität vieler Familien.
Aber neben Verlust, dem Gefühl von Entwertung, den Umbrüchen habe ich eben auch erlebt, wie Neues entstanden ist, wie Chancen ergriffen wurden, wie Menschen in der Unsicherheit trotzdem nach vorne gegangen sind, durchgehalten haben und so so viel aufgebaut haben. Übrigens nicht nur beim Aufbau Ost, sondern auch beim Aufbau West.
Wir wissen aus den Analysen von Steffen Mau und anderen: Zahlreiche Studie zeigen, dass die Unterschiede zwischen Ost und West bedeutend sind und weiterhin bestehen. Das beginnt bei Einkommen, geht über Vermögen, Renten und Erbschaften, zeigt sich aber auch in der Besetzung von Entscheidungspositionen. Es sind viele Bereiche, da ist der Stand der Einheit nach 35 Jahren nicht zufriedenstellend – in vielen Bereichen sind wir nicht gleichgezogen.
Kann man fragen, warum ist das so? Das hat was mit Sichtbarkeit und Teilhabe zu tun.
Das Neue Forum war eine treibende Kraft der Friedlichen Revolution. Es stand für den Mut, das Schweigen zu brechen, für die Entschlossenheit, Freiheit und Demokratie einzufordern, den Unrechtsstaat mit Bevormundung, Willkür, Lüge zu bekämpfen und dafür hohe persönliche Risiken einzugehen. Es war Sammelpunkt, weitgehend unter dem Dach der Kirchen, für Menschen mit unterschiedlichsten Biografien – und die dennoch gemeinsam für eine offene, Gesellschaft eintraten.
Aus dieser Bewegung, zusammen mit weiteren Bürgerrechtsgruppen, entstand schließlich das Bündnis 90. Die Ideen, die damals in Kirchen, auf Plätzen und an den Runden Tischen formuliert wurden – Mitgestaltung, Transparenz, Verantwortung – sind der politische Ursprung dieses Bündnisses. Sie prägen bis heute unser Verständnis von Demokratie: Dass sie nicht von oben verordnet wird, sondern von unten wächst, aus dem Engagement der Menschen heraus.
Doch die Instrumente, die damals aus diesem Geist heraus entwickelt wurden – die offenen Strukturen, die Runden Tische, die Beteiligungsformate, die Bündnis 90 in die politische Diskussion eingebracht hat – sie wurden nicht konsequent fortgeführt. Es war nicht gewollt. Die Tradition des Neuen Forums, Menschen einzubeziehen, Räume für Mitsprache zu öffnen und demokratische Prozesse von unten zu stärken, hat nach der Einheit viel zu schnell an Bedeutung verloren. Da ist etwas verschenkt worden auf dem Weg zur Demokratie: Die Chance, eine Kultur der breiten Beteiligung dauerhaft zu verankern. Eine Kultur, die uns heute so sehr helfen würde, Vertrauen in demokratische Institutionen zu stärken und Politik als gemeinsame Aufgabe zu begreifen.
Der Fokus lag damals weniger auf den Menschen – sondern auf Wirtschaft, Märkten und institutionellem Aufbau. Das halte ich für einen schwerwiegenden Fehler, der meines Erachtens nach deutlich sichtbar ist.
Für eine gute wirtschaftliche Entwicklung braucht es nicht nur Investitionen. Sondern vor allem Arbeitskräfte. Im Osten – einschließlich Sachsen – ist es seit Jahrzehnten so, dass die Menschen weniger werden und im Schnitt älter. Regionen schrumpfen. Junge Menschen fehlen. Zuwanderung würde helfen, um das auszugleichen. Die Offenheit dafür ist unterschiedlich ausgeprägt, manchmal nicht vorhanden. Wenn wir aber eine gute Wirtschaft wollen, brauchen wir Menschen, die hier leben und arbeiten wollen. Die fehlenden Menschen sind die größte Herausforderung für unsere Unternehmen.
Einheit heißt nicht, Unterschiede zu leugnen, sondern sie ernst zu nehmen.
Ich lehne den Ruf nach einer „zweiten Wende“ ab. Der Begriff „Wende“ ist eine von Egon Krenz erfundene Rettungsformel – „Wende“ ist problematisch, weil der Begriff den Eindruck erweckt, als hätte es sich um eine von oben gesteuerte Kurskorrektur gehandelt. Tatsächlich aber war es eine Revolution von unten, getragen von Bürgerinnen und Bürgern, die Freiheit und Demokratie eingefordert haben. Mit „Wende“ wird diese Eigenleistung, dieser Mut und diese Verantwortung der Menschen in der DDR, unsichtbar gemacht – und genau darum sprechen wir von der Friedlichen Revolution.
Diese Friedliche Revolution von 1989 war eine Sternstunde, ein demokratischer Aufbruch, der uns die Freiheit gebracht hat und uns befreit hat von einem misslungenen realsozialistischen Experiment, das dennoch gerade in den Köpfen von Menschen bis heute erfolgreich wirkt. Den gesellschaftlichen Umbruch, diese Friedliche Revolution, das haben Ostdeutsche geleistet. Wesentlich ging sie von Sachsen aus. Diesen Moment will ich nicht klein reden lassen, auch nicht durch eine Rhetorik, die danach klingt, als wäre noch einmal ein Bruch notwendig.
Was wir brauchen, ist eine echte Vervollständigung der Einheit. Es müssen Lücken geschlossen werden, die seit den 1990ern geblieben sind. Ein Teil der Aufgaben liegt bei den Menschen und ein Teil bei den Regierungsverantwortlichen. Es braucht Gerechtigkeit:
- durch gleiche Löhne, gute Arbeit, faire Renten
- durch Chancengerechtigkeit (Gleichstellung, faire Chancen auf Jobs, Nachwuchs- und Weiterbildungsprogramme und Aufstiegsmöglichkeiten)
- durch ländliche Regionen, die angebunden sind (Investitionen in Infrastruktur, Zugang zu Gesundheitsdiensten, Prävention, Sport- und Kulturangebote)
- durch echte Teilhabe und Mitbestimmung, Informationszugänge, transparente Prozesse
- durch das Besprechbarmachen von Identitätsfragen – und da rede ich nicht von der Folklorisierung ostdeutscher Eigenheiten
1989 hat uns die Demokratie geschenkt und die Freiheit.
Ich möchte enden mit einem Zitat von Bürgerrechtler Werner Schulz: „Die Einheit existiert, die vielbesagte Mauer in den Köpfen ist oft nur das Brett davor. Anstatt ständig unsere Einheit zu suchen und zu beschwören, sollten wir lieber unsere Freiheit in Vielfalt feiern. Und damit verbunden nicht nur das unendliche Gefühl von Glück und Dankbarkeit mitnehmen, sondern auch den Auftrag: Die Revolution geht weiter. Denn noch immer ist ihr Ruf „Wir sind das Volk“ – der Anspruch nach direkter Demokratie und Mitbestimmung nicht erfüllt.“
Vielen Dank.