Datum: 29. Oktober 2025

Regierungserklärung Rechtsstaat – Lippmann: Die Koalition braucht einen Plan, wie wir den Rechtsstaat wirksam gegen seine Feinde verteidigen

Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zur Fachregierungserklärung zum Thema: „Talking Rechtsstaat: Bürgernah. Stark. Konsequent.“

20. Sitzung des 8. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 29.10.2025, TOP 1

– Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,

in kaum einem anderen Ministerium wurden seit Regierungsbeginn so grundlegende Änderungen versprochen wie im Justizministerium. Also ist diese Regierungserklärung auch ein Anlass, einen Blick darauf zu werfen, ob denn ein Jahr, nachdem das Justizministerium wieder ein „reines Justizministerium“ wurde, alles so großartig läuft, wie es versprochen wurde.

Für den ein oder anderen CDU-Abgeordneten schien ja schon die Namensänderung der eigentliche Erfolg zu sein. Aber wenn man mal ehrlich ist, ist den meisten Leuten das Türschild eines Ministeriums vollkommen egal und dem heute gegenständlichen Rechtsstaat sowieso.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
reden wir also über den Rechtsstaat, eine der wirkmächstigsten Ideen der Staatstheorie und deshalb nicht ohne Grund ein Sehnsuchtsort für all jene, die unter Willkür und Tyrannei leben. Der freiheitliche Rechtstaat ist ein Geschenk, das wir uns jeden Tag aufs Neue machen können, wenn wir ihn schützen und stärken.

Aber: Ein Rechtsstaat ist nicht stark, weil er laut auftritt. Er ist stark, weil er Vertrauen schafft. Er ist konsequent, wenn er fair bleibt. Und er ist bürgernah, wenn er die Menschen versteht.

Ihn zeichnet aus, dass jederzeit funktioniert und dass er die Werte, auf denen er aufbaut, auch in der Lage ist umzusetzen. Ein Rechtsstaat zeigt seine Stärke nicht in Überschriften, sondern im täglichen Handeln. 

Die Säule eines starken Rechtsstaates ist, dass er bestmögliche Ressourcen hat, um seinen Aufgaben nachzukommen, dass er gehärtet ist gegen die Versuche, ihn von Innen und von Außen auszuhöhlen und dass er zugleich den Mut hat, die Freiheit zu schützen und Besonnenheit über billige Reflexe zu stellen.

Frau Staatsministerin,

bei den Ressourcen haben Sie die Herausforderungen benannt: steigende Kriminalitätsraten, überlastete Staatsanwaltschaften, angespannte personelle Situationen an den Gerichten einhergehend mit hohen Fallzahlen. Das sind reale Belastungen. Aber entscheidend ist, wie wir darauf reagieren. Und genau hier fehlt es offenbar an einem Plan.

Über das Land wird das Schreckgespenst massiver Einsparungen beim Personal im Öffentlichen Dienst ausgebreitet und ich habe nicht das Gefühl, dass es im Justizministerium auch nur ein Plan gibt, wie man eine starke Justiz in Anbetracht der Schreckensszenarien aufrechterhalten will. Die Antwort „Wir sind jetzt gut gerüstet“ wird Ihnen bei der nächsten Stellenkürzungsorgie – mitten auf den Berg der Altersabgänge – nichts bringen.

Wir brauchen daher endlich eine nachhaltige Personalstrategie, die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlastet. Wir BÜNDNISGRÜNE sind bereit, weiter über bessere Digitalisierung und eine kluge Aufgabenkritik zu reden, aber am Ende wird Recht nicht von KI, sondern von Richterinnen und Richtern gesprochen und von denen braucht es in Zukunft wahrscheinlich erst einmal nicht weniger, sondern mehr!

Werte Kolleginnen und Kollegen,
wir müssen weiter über das Thema Resilienz unserer Justiz reden. Wir beobachten mit großer Sorge die fortschreitende Diffamierung des Rechtsstaats durch rechtsextreme Kräfte – sie greifen gezielt das Vertrauen in die Unabhängigkeit von Gerichten, in faire Verfahren und in die Schutzfunktion des Staates für alle an. Es ist gut, dass sich der Bund der Frage der Schöffenwahlen angenommen hat. Aber das reicht nicht.

Ein wehrhafter Rechtsstaat darf nicht immer nur den ausgenutzten Lücken hinterherrennen, sondern muss präventiv weitere potenzielle Fehlstellen identifizieren. Es ist in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht hinnehmbar, dass aufgrund von Gesetzeslücken gefälschte Wahlen Bestandskraft haben oder sich Behörden über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes hinwegsetzen. Hier erwarte ich – auch zur Sicherung des Vertrauens in den Rechtsstaat – mehr Engagement auch aus ihrem Hause.

Womit wir beim nächsten Punkt wären. Der freiheitliche Rechtsstaat stellt den Schutz der Bürgerrechte in den Mittelpunkt, nicht das Wünsch-Dir-Was des Innenministers. Ich frage mich schon, wie das Justizministerium im Kabinett einen so offenkundig den Boden unserer Verfassung verlassenden Gesetzentwurf, wie den des neuen Polizeigesetzes, mittragen konnte. Die vornehmste Aufgabe des liberalen Rechtsstaates ist es, Freiheit auszuhalten und nicht Freiheit einzuschränken. Und ich erwarte, dass das wieder der Leitgedanke dieser Regierung wird.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
seine Stärke drückt der freiheitliche Rechtsstaat übrigens nicht in Härte aus, sondern auch in Besonnenheit. Der Rechtsstaat zeigt seine Stärke nicht, wenn er Chancen auf Resozialisierung streicht, sondern wenn er sie verantwortungsvoll ermöglicht.

Die von Ihnen gnadenlos gestrichenen Weihnachtsamnestie war kein Symbol der Beliebigkeit, sondern ein gezieltes Instrument, um den Übergang in Freiheit menschlich und sozialverträglich zu gestalten. Sie war ein Ausdruck von Vertrauen in die Fähigkeit zur Wiedereingliederung – und dieses Vertrauen ist Teil rechtsstaatlicher Vernunft.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
natürlich muss ein Rechtsstaat auch konsequent sein, vor allem aber dann, wenn es drauf ankommt. Dann, wenn es vielleicht nicht ganz so einfach ist wie die Streichung einer Amnestieregelung.

Wenn Sie „Konsequenz“ betonen, dann erwarten wir, dass sie auch dort gilt, wo es schwierig wird: bei der konsequenten Ausstattung der Justiz, bei der Beschleunigung von Verfahren, bei der Verlässlichkeit von Haftentscheidungen. Denn was nützt es, auf die Gleichheit vor dem Gesetz zu pochen, wenn Verfahren mangels Personals oder Struktur über Monate stillstehen?

Und da kommt man doch nicht umhin, die Frage zu stellen, wie es passieren kann, dass ausgerechnet in einem der medial beachtetsten Verfahren des letzten Jahres, einem hinterhältigen Angriff von Neonazis auf das Herz unserer Demokratie, den Wahlkampf, sich das Verfahren verzögert, weil die zuständige Richterin kurzerhand ans Ministerium abgeordnet wurde.

Wir müssen hier klar sein: Es genügt nicht, über Effizienzfortschritte in Verfahren zu sprechen – wir brauchen sichtbare Ergebnisse gerade dort, wo demokratiefeindliche Gewalt stattfindet.

Und wenn Sie, Frau Staatsministerin, von steigender Jugendkriminalität sprechen, dann müssen wir tiefer schauen. Mehr Strafverfolgung ist keine Prävention. Wer wirklich verhindern will, dass junge Menschen straffällig werden, muss in Jugendhilfe, Bildung, Schulsozialarbeit und psychologische Betreuung investieren. Kinder und Jugendliche brauchen Perspektiven – keine Schlagzeilen.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
sie haben betont, dass die Justiz bürgernäher werden müsse, dass Verfahren beschleunigt, Abläufe digitalisiert und Institutionen gestärkt werden sollen.

Dem stimmen wir ausdrücklich zu – das sind unsere gemeinsamen Ziele. Denn ein funktionierender, moderner Rechtsstaat ist die Grundlage demokratischer Stabilität.

Wenn Bürgerinnen und Bürger den demokratischen Rechtsstaat nicht mehr als lebendiges Angebot erleben, sondern sie zunehmend hinterfragen oder gar ablehnen, dann verliert unsere Demokratie an Boden.

Es ist unsere Aufgabe, frühzeitig, nachhaltig und sichtbar in Schulen, Jugendeinrichtungen und über alle Medien hinweg Demokratiebildung zu fördern – damit nicht die Vorstellung einer alternativen Ordnung stärker wird, sondern das Bewusstsein dafür wächst, dass dieser Rechtsstaat unser gemeinsames Haus ist. Um die Leute wirklich zu erreichen und nicht, weil es die Bürgerinnen und Bürger für selbstverständlich halten.

In einer Zeit, in der das Vertrauen in staatliche Institutionen und demokratische Prozesse unter Druck steht, gewinnt die gezielte Demokratie- und Rechtsstaatbildung eine ganz zentrale Bedeutung. Zu viele Bürgerinnen und Bürger in Sachsen erkennen nicht mehr den konkreten Mehrwert einer demokratischen Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Strukturen – wie Teilhabe, Transparenz und die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen.

Und ja, auch wenn Sie es nicht mehr hören können: Aber Bürgernähe zu predigen und das Transparenzgesetz schleifen zu wollen, passt halt nicht zu einander.

Werte Kolleginnen und Kollegen,
natürlich wurden in den letzten Monaten einiges positives erreicht: Die Zahl der Proberichterinnen und -richter ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Und die Zahl der Rechtsreferendarinnen und -referendare – gerade in Ost-Sachsen – ist erfreulich gestiegen. Das alles ist eine gute Nachricht für Sachsen.

Aber mit Blick auf die Herausforderungen fehlt es an einem Plan. Einem Plan, wie wir langfristig ausreichend Personal in der Justiz haben, um die Aufgaben zu erfüllen. Einen Plan, wie wir den Rechtsstaat wirksam gegen seine Feinde verteidigen. Einen Plan, wie Effizienz gelingen kann, ohne Menschlichkeit einzubüßen.

Mit einem solchen Plan könne Sie, Frau Staatsministerin, jederzeit auf unsere konstruktive Unterstützung zählen – aber auch auf unsere kritische Begleitung.

Schließen möchte ich daher nicht mit dem „Talking Rechtsstaat“, sondern mit den Talking Heads. Deren Lied „Road to nowhere“ sollte vielleicht nicht länger die Zielrichtung der Regierung vorgeben.

Vielen Dank!