Datum: 20. Juni 2021
Reform des Asyl- und Migrationspaktes: Chance für einen echten Paradigmenwechsel
Ein Kommentar von Lucie Hammecke, europapolitische Sprecherin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag, und Petra Čagalj Sejdi, Sprecherin für Asyl, Migration und Integration der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag
Ende September vergangenen Jahres hat die EU-Kommission eine Mitteilung über eine Reform des Asyl- und Migrationspakets vorgelegt. Seitdem ist ein dreiviertel Jahr ins Land gegangen und die Diskussion, die durch die Vorlage angeschoben werden sollte, fällt ernüchternd aus.
Die Menschenrechte von Geflüchteten werden in der Praxis der europäischen Asylpolitik nach wie vor missachtet. Noch immer gibt es Camps in Griechenland, in denen Menschen unter unwürdigsten Bedingungen hausen müssen. Berichte über illegale Push-Backs durch nationale Regierungen und unter Beteiligung von Frontex sind inzwischen zur Normalität geworden. Zuletzt nahmen wir mit Entsetzen wahr, wie spanische Soldaten Geflüchtete, die von Marokko zur spanischen Enklave Ceuta geschwommen sind, wieder ins Meer zurückstießen. Und das ist nur ein Beispiel dessen, was wenige hundert Kilometer von Deutschland entfernt tagtäglich Menschen auf der Flucht passiert.
Diese Praxis ist illegal. Die Mitgliedsstaaten missachten hier ganz klar EU-Recht, das Aufnahmebedingungen oder den Zugang zu Asylverfahren regelt. Die EU-Kommission schaut zu und lässt sie gewähren. Schlimmer noch: Sie stärkt die Rhetorik und Praxis eines Europas, das zuallererst seine Grenzen zu schützen hat, bevor es Menschenrechte achten muss. Das ist angesichts des Bekenntnisses der EU zum Schutz und zur Förderung von Menschenrechten absolut unwürdig.
Die Diskussion über eine Reform der gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik weckte Hoffnungen – beispielsweise auf eine Reform des Dublin-Verfahrens, durch die die Länder an den EU-Außengrenzen entlastet und die Situation für Geflüchtete hätte verbessert werden können.
Der Vorschlag der EU-Kommission erfüllt keine dieser Hoffnungen. Stattdessen werden problematische Entwicklungen verschärft und zementiert, insbesondere mit der Einführung eines absurden Solidaritätsbegriffes, der sogenannte Abschiebepatenschaften als Teil einer europäischen Verantwortungsübernahme definieren will.
Wir BÜNDNISGRÜNE im Sächsischem Landtag kritisieren den Vorschlag der Europäischen Kommission deutlich. Bereits im Herbst vergangenen Jahres haben wir Forderungen an ein neues, gemeinsam gestaltetes europäisches Asylpaket aufgestellt:
Das Sterben auf dem Mittelmeer muss gestoppt werden. Die Seenotrettung darf nicht länger kriminalisiert und illegale Push Backs nicht länger toleriert werden. Vielmehr braucht es einen Verteilmechanismus, der sich durch ein von allen Mitgliedsstaaten getragenes System der Humanität, Verantwortung und Solidarität auszeichnet. In dieses System sollten insbesondere auch diejenigen Kommunen integriert werden, die ihre zusätzliche Aufnahmebereitschaft von Geflüchteten signalisiert haben. Screeningverfahren an den Außengrenzen sehen wir BÜNDNISGRÜNE sehr kritisch. Es braucht vielmehr effektive Mechanismen zur Feststellung besonders schutzbedürftiger Menschen sowie den Zugang zu einer unabhängigen Asylverfahrensberatung. Im Rahmen der Verhandlungen zum Doppelhaushalt 2021/22 haben wir BÜNDNISGRÜNE uns erfolgreich dafür eingesetzt, diese zwei Instrumente in Sachsen (wieder) zu installieren.
Auf Ebene der Bundesregierung reicht es aber eben nicht aus, auf eine 27-Staaten-Lösung zu warten. Dies würde bedeuten, über weitere Jahre hinweg im Stillstand zu verharren und die Situation an den Außengrenzen zu tolerieren. Deshalb muss spätestens die nächste Bundesregierung ganz klar in einer Koalition der Willigen agieren, solange sich Länder wie Ungarn oder Polen weiterhin weigern, hier gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Im Anblick der gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die hier in Europa passieren, darf sich die Bundesrepublik nicht hinter den Viktor Orbáns dieser Welt verstecken, sondern muss Verantwortung übernehmen.
Die Situation an den europäischen Außengrenzen macht fassungslos. Seit Jahren kämpfen wir BÜNDNISGRÜNE für eine humane Flüchtlingspolitik. Wir können nicht die Europäische Union einerseits als das größte Friedensprojekt der Welt loben und auf der anderen Seite beim Sterben der Menschen wegschauen. Es ist frustrierend, wie viel Zeit es braucht, um hier Fortschritte zu erreichen. Diese Zeit haben die Menschen nicht, die vor Vertreibung, Elend und Verfolgung flüchten. Wir appellieren an die europäischen Entscheidungsträger*innen, die Reform des Asyl- und Migrationspaktes für einen echten Paradigmenwechsel zu nutzen.
Weitere Informationen:
Einen ausführlichen Vorschlag für ein neues, gemeinsam gestaltetes europäisches Asylsystem legte GREENS/EFA im Europäischen Parlament vor >